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Wie das deutsche Volk seit dem Ausbruch des Kriegs sich wieder nach langer Trennung und Spaltung als Ein Volk von Brüdern fühlen gelernt und an den Heldenthaten seiner wehrhaften Männer, welche ihm als Siegespreis die Sühne langer Schmach, die Rückgabe Elsaß-Lothringens, verhießen, sich zu hohem und stolzem Nationalgefühl aufgerichtet hatte, so zeigte es sich auch von Anfang an fest entschlossen, seine wunderbaren Erfolge zur Herstellung eines einheitlichen, starken und großen Reichs zu benutzen.
Schon nach den ersten großen Siegen [* 2] der deutschen Heere hatte die Stimme des Volkes laut eine Einigung von ganz Deutschland [* 3] gefordert; diese Forderung war dann im Verlauf des Kriegs mit einer solchen Entschiedenheit und Einstimmigkeit erneuert worden, daß die Regierungen der süddeutschen Staaten ihr die Gewährung nicht zu versagen wagten. War doch eben durch diesen Krieg klarer als je erwiesen worden, daß nur auf der Einigung aller Stämme die Sicherheit Deutschlands, [* 4] besonders des Südens, für die Dauer begründet sei, und durch die Besiegung Frankreichs die Rücksichtnahme auf diesen Nachbar beseitigt, die sich bisher wie ein Bleigewicht allen auf die Einheit Deutschlands gerichteten Bestrebungen angehängt hatte.
Auch Österreich [* 5] hatte durch Beusts zweideutige Haltung bei Beginn des Kriegs alles Recht verwirkt, noch in deutschen Angelegenheiten ein Wort zu reden. Die Hauptschwierigkeit lag indes in der Frage, ob es möglich sein würde, die Einheit unter genügender Berücksichtigung der Ansprüche der süddeutschen Staaten auf ein reichliches Maß innerer Selbständigkeit herzustellen, zumal da König Wilhelm und Bismarck jeden Gedanken einer Pression auf die süddeutschen Staaten ablehnten, nachdem dieselben so loyal ihren Vertragspflichten nachgekommen waren.
Als zuerst Baden [* 6] die Frage nach einer festern Einigung bei der Regierung des Norddeutschen Bundes anregte und dann auch Bayern [* 7] den Wunsch nach Verhandlungen hierüber kundgab, reiste der Präsident des Bundeskanzleramtes, Delbrück, im Auftrag Bismarcks nach München [* 8] (21. Sept.), um die Vorschläge der süddeutschen Regierungen entgegenzunehmen. In den hier stattfindenden Konferenzen, an denen auch der württembergische Justizminister Mittnacht teilnahm, machte indes Bayern derartige Forderungen, daß eine Verständigung unmöglich erschien. Daraufhin lud Bismarck die drei andern süddeutschen Staaten ein, Bevollmächtigte zu Unterhandlungen nach Versailles [* 9] zu senden, an denen teilzunehmen Bayern freigestellt wurde. Hier kamen im Lauf des Oktobers je zwei Vertreter der vier Staaten mit den Bevollmächtigten des Bundes, den Ministern Delbrück, Roon und Friesen, zu Konferenzen zusammen, die bald zu befriedigendem Abschluß führten, zuerst mit Baden und Hessen [* 10] (15. Nov.), welche die Verfassung des Norddeutschen Bundes mit geringen Änderungen (in Bezug auf die Besteuerung) annahmen.
Die Genehmigung des Vertrags erfolgte in den badischen Kammern 16. und 19. Dez., in den hessischen 20. und 29. Dez. fast einstimmig. Am 23. Nov. ward der Vertrag mit Bayern unterzeichnet, in welchem demselben sehr erhebliche Sonderrechte zugestanden wurden. Es behielt sein besonderes Gesandtschaftsrecht, die Verwaltung seines Heerwesens, eigne Post, Eisenbahnen und Telegraphen, [* 11] eigne Besteuerung von Bier und Branntwein und besondere Bestimmungen hinsichtlich des Heimats- und Niederlassungsrechts.
Obgleich dieser Vertrag der nationalen Partei das Maß berechtigter Eigentümlichkeit weit zu überschreiten schien, fand er doch im bayrischen Abgeordnetenhaus von seiten der ultramontanen Patriotenpartei lebhaften Widerspruch und wurde erst nach zehntägigen Debatten mit 102 gegen 48 Stimmen angenommen, nachdem sich die Patriotenpartei gespalten hatte; die Reichsräte hatten ihn schon mit 30 gegen 3 Stimmen genehmigt. Zuletzt wurde 25. Nov. der Vertrag mit Württemberg [* 12] abgeschlossen; derselbe glich im wesentlichen dem bayrischen, nur schloß Württemberg, gleich Baden und Hessen, mit Preußen [* 13] eine Militärkonvention ab, nach welcher die württembergischen Truppen als Teil des deutschen Bundesheers ein in sich geschlossenes Armeekorps bilden sollten. Die neugewählte württembergische Zweite Kammer, in welcher infolge des völligen Umschwungs der politischen Gesinnung der Württemberger die nationale Partei die Majorität hatte, genehmigte den Vertrag 23. Dez. mit 74 gegen 14 Stimmen, die Erste Kammer 29. Dez. mit 26 gegen 3 Stimmen.
Der norddeutsche Reichstag wurde 24. Nov. wieder zusammenberufen, um den Verträgen mit den süddeutschen Staaten ebenfalls seine Zustimmung zu erteilen. Auch hier stießen die bayrischen und württembergischen Verträge wegen der zu weit gehenden Reservatrechte auf Widerspruch, besonders von seiten der Fortschrittspartei, wurden jedoch endlich auf dringende Befürwortung der Regierung 9. Dez. angenommen. Auch eine neue Kriegsanleihe von 100 Mill. Thlr. wurde bewilligt. Am 4. Dez. machte Delbrück dem Reichstag davon Mitteilung, daß der König von Bayern bei den deutschen Fürsten und Freien Städten beantragt habe, mit dem Präsidium des künftigen Deutschen Bundes den Titel »deutscher Kaiser« zu verbinden, und daß die Fürsten und Städte alle zugestimmt hätten. Ohne daß die Rechte des bisherigen Präsidiums dadurch vermehrt wurden, ward doch das Ansehen des Bundesoberhauptes erhöht, seine Würde eine Stufe höher als die der übrigen Fürsten gestellt und dem deutschen Volk ein altes Symbol seiner Einheit und Macht damit zurückgegeben. Dem entsprechend wurde auch der neue Bund »Deutsches Reich« genannt.
Nachdem 10. Dez. der erste und letzte norddeutsche Reichstag geschlossen worden, begab sich eine Deputation desselben von 30 Mitgliedern nach Versailles, um dem König von Preußen eine Adresse zu überbringen, welche ihn »vereint mit den Fürsten Deutschlands« bat, durch Annahme der deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen. Die Deputation, geführt von dem Präsidenten Simson, der 21 Jahre früher an der Spitze der Deputation des Frankfurter Parlaments Friedrich Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone angeboten hatte, ward 18. Dez. in Versailles feierlich empfangen.
König Wilhelm nahm die Krone an, vorbehaltlich der formellen Kundgebung der freien Zustimmung der Fürsten und Städte. Nachdem dieselbe erfolgt war, erließ der König folgende Proklamation an das deutsche Volk: »Wir Wilhelm, König von Preußen, nachdem die deutschen Fürsten und Freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Deutschen Reichs die seit mehr denn 60 Jahren ruhende deutsche Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen, und nachdem in der Verfassung des Deutschen Bundes die entsprechenden Bestimmungen vorgesehen sind, bekunden hiermit, daß Wir es als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland betrachtet haben, diesem Ruf der verbündeten deutschen Fürsten und Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen. Demgemäß ¶
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werden Wir und Unsre Nachkommen an der Krone Preußen fortan den kaiserlichen Titel in allen Unsern Beziehungen und Angelegenheiten des Deutschen Reichs führen und hoffen zu Gott, daß es der deutschen Nation gegeben sein werde, unter dem Wahrzeichen ihrer alten Herrlichkeit das Vaterland einer segensreichen Zukunft entgegenzuführen. Wir übernehmen die kaiserliche Würde in dem Bewußtsein der Pflicht, in deutscher Treue die Rechte des Reichs und seiner Glieder [* 15] zu schützen, den Frieden zu wahren, die Unabhängigkeit Deutschlands, gestützt auf die geeinte Kraft [* 16] seines Volkes, zu verteidigen. Wir nehmen sie an in der Hoffnung, daß dem deutschen Volk vergönnt sein wird, den Lohn seiner heißen und opfermutigen Kämpfe in dauerndem Frieden und innerhalb der Grenzen [* 17] zu genießen, welche dem Vaterland die seit Jahrhunderten entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe Frankreichs gewähren. Uns aber und Unsern Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allezeit Mehrer des Reichs zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiet nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.« Am 170 Jahre nach der Krönung des ersten preußischen Königs, geschah im Spiegelsaal des französischen Königsschlosses zu Versailles die feierliche Verkündung der Annahme der Kaiserkrone und der Herstellung des Deutschen Reichs in Gegenwart einer glänzenden Versammlung von Fürsten, Prinzen und Kriegshelden, und am 19. Januar gab der Donner der Kanonen in der siegreichen Schlacht am Mont Valérien dazu die Weihe.
Der Kaiserproklamation folgte unmittelbar die Kapitulation von Paris [* 18] und damit das Ende des unvergleichlichen Kriegs. Die Versailler Friedenspräliminarien (26. Febr.) gaben Deutschland Elsaß mit Straßburg [* 19] und Deutsch-Lothringen mit Metz [* 20] zurück und verschafften ihm eine Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Frank. Wohl erregte dieser glänzende Erfolg den Neid der andern Mächte, und namentlich England hatte wiederholt zu gunsten Frankreichs zu intervenieren gesucht. Indes seine schwächliche Neutralität bei Ausbruch des Kriegs und die illoyale Unterstützung der französischen Republik durch Zuführung von englischen Waffen [* 21] und sonstigem Kriegsmaterial hatten es alles Anspruchs auf Berücksichtigung beraubt, und seine Intervention wurde zurückgewiesen. Dem Kaiser von Österreich zeigte Bismarck die Neugestaltung der Dinge in an und betonte den Wunsch des neuen Reichs, zu dem durch gemeinschaftliche wichtige Interessen verbundenen Nachbarreich freundschaftliche Beziehungen zu pflegen, welchen Wunsch Beust 26. Dez. ebenso verbindlich erwiderte. Das treue Wohlwollen des russischen Kaisers, welches Deutschland manche Verwickelungen, besonders im ersten Teil des Kriegs, erspart hatte, vergalt die deutsche Regierung durch Unterstützung des russischen Verlangens, von einigen drückenden Bestimmungen des Pariser Friedens von 1856 befreit zu werden, was die Pontuskonferenz in London [* 22] zugestand. Auch Italien [* 23] hatte Nutzen von den deutschen Siegen gezogen, indem es, von Frankreich nicht mehr gehindert, im Sept. 1870 den Rest des Kirchenstaats sich einverleiben und darauf (im Januar 1871) Rom [* 24] zur Hauptstadt erheben durfte. Der definitive Friede zwischen Deutschland und Frankreich wurde 10. Mai zu Frankfurt [* 25] a. M. abgeschlossen.
Am ward in Berlin [* 26] der erste deutsche Reichstag eröffnet. Die Wahlen (3. März) waren gut national ausgefallen; doch zählte man unter den 382 Abgeordneten 60 Ultramontane, welche den Kern aller Oppositionselemente bildeten. Die Thronrede des Kaisers Wilhelm I., der am 17. März nach Berlin zurückgekehrt war, konnte mit Stolz und Genugthuung verkünden: »Wir haben erreicht, was seit der Zeit unsrer Väter für Deutschland erstrebt wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung unsrer Grenzen, die Unabhängigkeit unsrer nationalen Rechtsentwickelung, und der Geist, welcher in dem deutschen Volk lebt und seine Bildung und Gesittung durchdringt, nicht minder die Verfassung des Reichs und seine Heereseinrichtungen bewahren Deutschland inmitten seiner Erfolge vor jeder Versuchung zum Mißbrauch seiner durch seine Einigung gewonnenen Kraft. Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Kriegs hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eignen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren. Möge die Wiederherstellung des Deutschen Reichs für die deutsche Nation auch nach innen das Wahrzeichen neuer Größe sein, möge dem deutschen Reichskrieg, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen, und möge die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampf um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen.« Bei der Adreßdebatte machte sich schon die Opposition der neuen katholischen Zentrumspartei geltend, welche ihre Hoffnung, den Einfluß der siegreichen neuen Macht für den Papst und die Wiederherstellung seiner weltlichen Herrschaft geltend zu machen, getäuscht sah. Ebenso wurde ihr Versuch, gewisse kirchliche Grundrechte in die Reichsverfassung einzuschieben, vereitelt. Diese Verfassung, eine Revision der norddeutschen Bundesverfassung, ward ohne lange Debatten mit allen gegen sieben Stimmen angenommen. Sie erhöhte die Zahl der Mitglieder und Stimmen des Bundesrats, der nun aus den Bevollmächtigten von 25 Staaten bestand, von 43 auf 58. Die Rechte des Bundespräsidiums wurden in einigen Punkten beschränkt: bei Erklärung von Bundeskriegen war Zustimmung des Bundesrats erforderlich, außer im Fall erfolgten Angriffs auf Bundesgebiet, und ebenso war dem Bundesrat der Beschluß, ob Bundesexekution einzutreten habe, vorbehalten. Elsaß-Lothringen [* 27] wurde Reichsland, d. h. gemeinsamer Besitz des Reichs.
So war das neue Deutsche Reich [* 28] begründet. Wohl kam es dem alten, 1806 zu Grunde gegangenen Heiligen Römischen Reich deutscher Nation an Umfang und Machtansprüchen nicht gleich: der neue Kaiser trug nicht die älteste und erhabenste Krone der Christenheit, er war nicht Oberlehnsherr der deutschen Reichsfürsten und beanspruchte nicht die Oberhoheit über große Nachbarlande. Die politische Verbindung mit den österreichischen Landen war gelöst, Luxemburg [* 29] aufgegeben.
Dafür aber waren Schleswig [* 30] und Elsaß-Lothringen neu gewonnen, und was das Reich an äußerm Glanz und Ausdehnung [* 31] verlor, das ersetzte es durch innere Einheit und Kraft. Unter der gesetzlich geordneten, von einem Staat wie Preußen getragenen Reichsgewalt, unter einer erblichen Dynastie, welche eine große, aber rein deutsche Hausmacht besaß, konnte das deutsche Volk nun eine einheitliche Kulturarbeit beginnen. Nach außen war es durch seine Militärmacht gesichert, im Innern konnten die Territorialgewalten der Reichseinheit und dem Wohl des Ganzen nicht mehr gefährlich werden und in dem ihnen überlassenen Bereich durch ¶