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Kirche gegenüber das Recht der Ketzer und Irrlehrer verfocht. Natürlich rief diese pietistische Geschichtsbetrachtung eine Menge Gegner in die Schranken, unter welchen Weismann (»Introductio in memorabilia eccl.«, Tübing. 1718, 2 Bde.), die beiden Walch (s. d.) und Siegm. Jak. Baumgarten (s. d.) die namhaftesten sind. Auf einen wirklich objektiven Standpunkt, den man als eine Versöhnung des orthodoxen und pietistischen Gegensatzes fassen kann, hat zuerst Johann Lorenz v. Mosheim (s. d.) die Kirchengeschichte erhoben, während Semler (s. d.) planlos und schwerfällig, aber als eigentlicher Vater der Quellenkritik schrieb.
Auf dem hierdurch gewonnenen Standpunkt lieferte Johann Matthias Schröckh (s. d.) ein kirchengeschichtliches Riesenwerk. Die mit ihm beginnende pragmatische Kirchengeschichtschreibung, welche sich nicht mit der Aneinanderreihung der Thatsachen begnügt, sondern deren Werden aus den Motiven der Handelnden zu erklären sucht, fand einen weitern Vertreter an L. T. Spittler (s. d.); H. Ph. Kirchengeschichte Henke (s. d.) gab eine energische Kritik der Thatsachen, sah jedoch in der Kirchengeschichte eigentlich nur eine Geschichte religiöser Verirrungen; Stäudlin war in seiner »Universalgeschichte der Kirche« (5. Aufl., Hannov. 1833) in Gefahr, den objektiv historischen Standpunkt einem allzu subjektiven Pragmatismus zu opfern, während G. J. ^[Gottlieb Jakob] Planck (s. d.) in Göttingen [* 2] durch die Befolgung der pragmatischen Methode ein tieferes Verständnis des Entwickelungsganges der neuern Kirchengeschichte ermöglichte. Von der pragmatischen Geschichtsauffassung sich abwendend, wollte eine andre Richtung die Thatsachen feststellen und ohne subjektive Beimischung zur Darstellung bringen; hierher gehören: J. ^[Johann] Ernst Christian Schmidt (»Handbuch der christlichen Kirchengeschichte«, Gießen [* 3] 1801-20, 6 Bde.; 2. Aufl., 1.-4. Bd., 1825-27; fortgesetzt von F. W. Rettberg, 7. Bd., das. 1834) und Gieseler (s. d.), dessen kompendiöses, aber dennoch durch Mitteilung der wesentlichsten Quellenauszüge umfangreiches Werk ein Muster besonnener wissenschaftlicher Forschung ist. In steiferer Form, aber mit gleich umfassender Gründlichkeit wandelt in seinen Fußstapfen Niedner (s. d.). Als der eigentliche Vater der neuern protestantischen Kirchengeschichte gilt aber Neander (s. d.). Seine Geschichtsbetrachtung ist indes mehr erbaulicher als objektiv wissenschaftlicher Art, und sein oberster Satz, die Kirche sei übernatürlich in Bezug auf ihr Entstehen, natürlich dagegen im Bestehen, ist selbst ein Dogma. Er ist stets darauf bedacht (die Kehrseite des die äußern Verhältnisse zu sehr betonenden Pragmatismus), die innere Entwickelung der Kirche in Dogma, Kultus und Sitte zur Darstellung zu bringen.
Den milden irenischen Geist Neanders atmet auch die Kirchengeschichte seines Schülers Kirchengeschichte R. Hagenbach (s. d.). An Neander und Gieseler schließen sich an die auf dem Gebiet der Kirchenverfassung und des kirchlichen Lebens neue Gesichtspunkte eröffnenden Vorlesungen Richard Rothes (s. d.) über Kirchengeschichte. Eigne Wege schlägt die konfessionelle Kirchengeschichtschreibung ein. Vertreter des orthodoxen Luthertums sind Guericke, H. Schmid, Lindner und Kurtz (s. diese Art.). Den reformierten Standpunkt vertritt J. J. ^[Johann Jakob] Herzog (s. d.) u. noch entschiedener als er Ebrard (s. d.). Unbekümmert um die Vorurteile konfessioneller Geschichtschreibung, angeweht vom Geist Hegelscher Philosophie, gibt Hasse ( Kirchengeschichte«, hrsg. von A. Köhler, 2. Aufl., Leipz. 1872) eine den innern Zusammenhang aufzeigende Darstellung.
Ebenfalls im Gegensatz zu der einreißenden Vermengung theologisch-religiöser und wissenschaftlicher Gesichtspunkte bietet Kirchengeschichte Hase [* 4] (s. d.) eine objektiv besonnene, geistreiche und frische Darstellung dar, die freilich zum Verständnis ihrer zahlreichen Andeutungen schon eine gewisse Vertrautheit mit dem Stoffe voraussetzt. Eine neue Epoche der Kirchengeschichtschreibung datiert von der Tübinger Schule, auch hier geführt von F. Ch. Baur (s. d.), welcher den Entwickelungsgang der christlichen Idee in großartigen, nur das Allgemeine zu sehr auf Kosten des Individuellen hervorhebenden Zügen beleuchtet hat. Eine »Zeitschrift für Kirchengeschichte« wird von Brieger (Gotha [* 5] 1876 ff.) herausgegeben.
Vgl. auch Weingarten, Zeittafeln zur Kirchengeschichte (2. Aufl., Leipz. 1874),
und die unserm Artikel »Kirche« beigegebene »Zeittafel«.
Auch in der katholischen Kirche haben sich neuerdings verschiedene Geistesrichtungen bei dem Ausbau der Kirchengeschichte beteiligt und zwar sowohl vom modern-spekulativen als vom ultramontanen Standpunkt aus. Ohne Schroffheit, aber auch ohne Kritik vertritt die ultramontane Geschichtschreibung Stolberg [* 6] (s. d.); eine durch ihre milde und tiefe Auffassung sowie geschmackvolle Darstellung ausgezeichnete Kirchengeschichte lieferte Katerkamp (Münst. 1819-34, 5 Bde.). Immer mehr brach sich auch hier Bahn eine wissenschaftlichere, von den Resultaten protestantischer Forschung nicht unbeeinflußte Richtung, als deren hauptsächliche Vertreter gelten: Ritter (»Handbuch der Kirchengeschichte«, 6. Aufl., Elberf. u. Bonn [* 7] 1862, 2 Bde.),
Locherer (»Geschichte der christlichen Religion und Kirche«, Ravensb. 1824-34, 9 Bde.), Döllinger, Möhler, Alzog und Franz Xaver Kraus (s. diese Art.). Dagegen hat Hergenröther (s. d.) seine umfassende Gelehrsamkeit ganz in den Dienst schroff-ultramontanen Geistes gestellt; Vertreter des gleichen Standpunktes ist Brück (»Lehrbuch der Kirchengeschichte«, 3. Aufl., Mainz [* 8] 1884).
Vgl. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung (Tübing. 1852).