6) Schutzmaßregeln gegen die
Vererbung von Geisteskrankheiten und eine dem entsprechende Änderung des
Eherechts;
7) gesetzliche Bestimmungen über die privat- und strafrechtliche
Stellung derjenigen Kranken, die nicht ganz zurechnungsfähig
sind und nicht unbeschränkt disponieren dürfen, ohne doch geradezu geisteskrank zu sein (Schwachsinnige,
Epileptiker, Alkoholisten etc.), oder ohne es permanent zu sein;
8) Maßregeln gegen die heutzutage noch in unglaublich zahlreichen
Fällen vorkommende
Verurteilung wegen Strafthaten, die
von Geisteskranken begangen worden sind;
9) Bestimmungen über die Internierung geisteskrank gewordener Verbrecher und verbrecherischer Geisteskranker in besondern,
mit
Straf- und
Irrenanstalten in keiner
Weise zusammenhängenden Anstalten.
Zu 1). Viele europäische
Staaten erfüllen diese
Pflicht, jedoch kein einziger deutscher
Staat. In
Preußen
[* 3] speziell wird eine
Verpflichtung zur öffentlichen
Fürsorge für Irre überhaupt nicht anerkannt; hier beruht das öffentliche Irrenwesen nur
auf § 31 des
Gesetzes vom
(Unterstützungswohnsitz), wonach die
Landarmenverbände befugt sind,
für Bewahrung und
Pflege hilfsbedürftiger Geisteskranker Anstalten einzurichten. Diese
Verbände haben von dieser Befugnis
nur sehr wenig
Gebrauch gemacht; gleichwohl hat der preußische
Staat über diese Erteilung einer Befugnis hinaus nichts gethan.
Zu 2). Das
Interesse der öffentlichen
Ordnung wie das eines geistig erkrankten
Menschen erfordert gleich
unbedingt die schleunige Überführung in sachverständige Behandlung. Sind die
Irrenanstalten zweckmäßig eingerichtet,
so sind sie natürlich die einzigen
Orte, in die ein Kranker gehört. Leider sind viele Anstalten nicht zweckmäßig eingerichtet.
Ihre schlimmsten Fehler: Überfüllung, unterschiedslose Anhäufung heilbarer Kranker unter gänzlich verblödeten, sicher
Unheilbaren, zu sparsame Verpflegung, unzureichende Schulung des Wartepersonals, unzureichende spezialistische
Vorbildung und zu geringe Anzahl der behandelnden
Ärzte, Überbürdung der dirigierenden
Ärzte mit ökonomischen und Büreaugeschäften,
büreaukratische
Organisation des ärztlichen
Dienstes, berechtigen nur zu oft die Unzufriedenheit der Kranken und ihrer
Angehörigen
und den
Zweifel, ob ein Anstaltsaufenthalt für einen geistig Erkrankten unter allen Umständen von Vorteil
ist. Jedenfalls werden diese Übelstände von den Irrenärzten selbst am lebhaftesten empfunden und beklagt.
Zu 3) und 4). Die Sorge für die öffentliche
Ruhe und für die
Heilung frisch erkrankter Irrer steht höher als die Rücksicht
auf die
an sich sehr geringe
Gefahr, daß ein Nichtgeisteskranker infolge eines schnellen
Verfahrens, lügenhafter,
nicht genügend verifizierter Aussagen in eine
Irrenanstalt gebracht werden könnte.
Fälle von längerer Zurückhaltung geistig
Gesunder in Anstalten sind in
Preußen in den letzten 40
Jahren nicht vorgekommen. Das schließt freilich nicht aus, daß
Klagen
über ungerechtfertigte Zurückhaltung in Anstalten ins
Publikum gelangten.
Prüft man diese
Fälle genauer, so handelt es sich jedesmal entweder
um an Paranöa Erkrankte, die ungeheilt
entlassen wurden, und denen ihr Anstaltsaufenthalt als
Glied
[* 4] in der
Kette der erlittenen Verfolgungen erscheint, oder um
Fälle
von periodischer
Geistesstörung, bei denen in freien
Intervallen keine Krankheitseinsicht besteht, dagegen eine oft sehr entwickelte
Rhetorik und
Darstellungsgabe, oder drittens um Trunk- und Morphiumsüchtige, die nach längerer
Entziehung ihres
Genußmittels gesund erscheinen können, oder schließlich um
Fälle aus dem sehr umfangreichen Grenzgebiet
der
Geistesstörungen, d. h. um Schwachsinnige, Pseudogenies, verkommene und verbrecherische
Naturen, erfolglose Entdecker, Erfinder,
Propheten, kurz um Individuen, deren
Leben ein fortwährendes Hin- und Herpendeln zwischen
noch normaler Erregtheit und beginnender
Geistesstörung ist.
Hier ist es sehr wohl möglich, daß verschiedene Beobachter, denen nicht genügend Zeit zur
Disposition steht, zwei ganz
verschiedene
Phasen im Geistesleben eines zu Begutachtenden vor
Augen hatten, die Verschiedenheit des Beobachtungsmaterials
erklärt natürlich die Verschiedenheit der Schlußfolgerungen. Es ist somit nicht angezeigt, ausFurchtvor der Internierung Gesunder die Gewährung der
Aufnahme in eine Anstalt abhängig zu machen von einem verwickelten Instanzengang
durch administrative und richterliche Behörden hindurch und von deren Überzeugung von einer vorliegenden
Geistesstörung,
wie das in
Holland geschieht, und ebensowenig ist es wahrscheinlich, daß ein
Geschwornengericht, dessen
Verdikt für
Geisteskrankheit (wie in einzelnen nordamerikanischen
Staaten)
Bedingung für die
Aufnahme in die Anstalt ist, ein besseres
Urteil haben sollte als der
Sachverständige. Die grundlosen
Klagen über die Internierung Gesunder in den Anstalten haben zu
dem Verlangen geführt, den
Juristen allein für kompetent gelten zu lassen in der
Frage, ob jemand geisteskrank ist
oder nicht.
Die unter Nr. 5 bis 9 angeführten
Forderungen sind heute allgemein anerkannt und bedürfen keiner nähern Begründung.
Vgl.
Reuß,
[* 5] Der Rechtsschutz der Geisteskranken (Leipz. 1888);
undBörse 1889/90. Im europäischen
Börsenverkehr hat sich eine bemerkenswerte Umgestaltung der Verhältnisse
vollzogen. Auf dem Gebiete des Kapitalmarktes hat sich der internationale
Verkehr und auf dem Spekulationsmarkt der Lokalverkehr
verschärft. Diese
Erscheinung ist besonders in
Berlin
[* 9] sichtbar geworden. An der
LondonerBörse beschränkte derHandel
in Minenaktien jede andre
Transaktion. Die
WienerBörse wollte dem
Berliner
[* 10] Vorbild folgen und schob einige
Industrie- und Bergwerksaktien
in den
Vordergrund. In
Berlin hatten anfangs die
Aktien industrieller
Unternehmungen, zunächst Brauereiaktien, die
Gunst der
Spekulanten erworben. Es entwickelte sich ein interessantes
Treiben. Heute wurde für
Brauereien, morgen fürMaschinen-
und am folgenden
Tage für
Zement- und andre
Aktien agitiert. Kurssteigerungen um eine ganze
Hand
[* 11] voll
Prozente waren keine Seltenheit.
Diese
Bewegungen waren der Ursprung eines Gründungsfiebers, wie es nicht schlimmer in den sogen.
Gründerjahren bestanden hat. Infolge der neuen
Gesetzgebung konnte der Gründergewinn nicht dem
Kapital zugeschlagen werden.
Er wurde deshalb in
¶
mehr
Form eines Aufgeldes auf die Aktien erhoben, und das führte dazu, daß 30 Proz. und mehr Aufgeld gezahlt wurde und sich dasselbe
in den meisten Fällen sofort weiter erhöhte. Diese Bewegung war nicht das Werk von Fachspekulanten, sondern des Publikums,
welches durch Kursgewinn Reichtümer erwerben wollte und erworben hätte, wenn es mit dem erzielten Gewinn
sich befriedigt erklärt und, wie man an der Börse sagt, »herausgegangen wäre«; aber statt dessen war jeder neue
Erfolg nur eine Anregung für eine Ausdehnung
[* 13] der Engagements, bis sich endlich eine Reaktion entwickelte.
Die spekulative Beteiligung des Publikums ging von Brauerei- und ähnlichen Aktien auf Bergwerkspapiere
über. Der Mangel an spekulativer Teilnahme für andre Industriepapiere wurde durch Täuschungen in der Dividendenfestsetzung
einiger industrieller Gesellschaften verschärft, während sich die spekulative Teilnahme für Bergwerkspapiere steigerte,
weil der Markt für Montanerzeugnisse in eine steigende Preisbewegung trat und diese eine Auffassung der Verhältnisse hervorrief,
welche nur den günstigen Erscheinungen Rechnung trug und jedes ungünstige Moment einfach von der Tagesordnung
absetzte. Im Mai kam die Arbeiterfrage in Fluß.
Arbeiterausstände in den Kohlenrevieren, besonders in Rheinland-Westfalen, veranlaßten eine Verminderung der Förderung über
die Ausstandszeit hinaus, weil die Überschichten in Wegfall kamen und die Betriebsunterbrechungen Störungen verursacht hatten.
Die Kohlenpreise stiegen, weil sich auch der Bedarf zu nicht kleinem Teile infolge der großen Arbeiten
für Rüstungszwecke erweitert hatte. Die Steigerung der Kohlenpreise und des Arbeitslohnes beeinflußte auch die Bewegung in
andern Bergwerksartikeln, besonders des Eisens, und so entwickelte sich eine allgemeine Preisbewegung, welche von den zum Abschluß
gekommenen Konventionen und errichteten Verkaufssyndikaten zu einer Preisfixierung benutzt wurde, welche
eine Reaktion veranlassen mußte. Diese Reaktion trat im J. 1890 sehr scharf in die Erscheinung und übertrug sich auf die Preise
aller Rohmaterialien und Kurse, nur mit dem Unterschied, daß im Januar, Februar und März die Kurse fielen, während die Eisen-
und Kohlenpreise noch stiegen. Letztere gingen dann aber ebenfalls scharf zurück.
Unter dieser Gestaltung der Verhältnisse hatte besonders der deutsche Ausfuhrhandel zu leiden. Die Einfuhr fremder Erzeugnisse
ist trotz der Schutzzölle gestiegen, die Ausfuhr gefallen. Die stattgehabte Bewegung ist aus folgenden Zahlen erkennbar. Es
war inTonnen für
Der
Hauptgrund der sich entwickelnden Reaktion lag in der Identifizierung der Worte Verbrauch und Absatz. Die statistischen
Aufzeichnungen haben allerdings niemals das Wort Verbrauch in Anwendung gebracht, aber der Spekulation
entsprach diese Praxis nicht; sie adoptierte das Wort Verbrauch und fand, daß dieser die Produktion decke. Aber das war eine
Täuschung, welche besonders in der ersten Hälfte des Jahres 1890 in dem stärkern Angebot seitens der Händler unter Kartellpreisen
zum Ausdruck kam.
An der Börse entwickelte sich, nachdem die Kurse fast das ganze zweite Halbjahr 1889 gestiegen waren,
die Reaktion infolge der Gestaltung der Verhältnisse am Geldmarkt, welche die leichten Hände zur Liquidation ihrer Engagements
zwangen und einen Kursdruck veranlaßten, der aus folgender Aufstellung hervorgeht. Dieser Kursdruck mußte sich am stärksten
für Bergwerksaktien geltend machen, weil auf diesem Gebiete die größte Anspannung der spekulativen
Kräfte stattgefunden hatte und hier jede Arbitrage fehlte. Mit derselben fehlt auch das besonders im internationalen Verkehr
arbeitende Sicherheitsventil, d. h. der Abzug, bez. der
Bezug von Material, wenn dasselbe zu stark vorhanden ist, bez. fehlt. Es notierten:
Von dem durch den Wert des Bezugs neuer Aktien entstandenen Kursdifferenzen haben wir bei dieser Aufstellung
abgesehen.
Die veränderte Gestaltung der Geldverhältnisse war eine Folge des gesteigerten Bedarfs der Industrie, welcher besonders in der
Erweiterung der Unternehmungen durch den Erwerb von Zechen und dem herrschenden Gründungsfieber zum Ausdruck kam. Auch andre
Gründe haben mitgewirkt. So wurde durch Suspension der Ankäufe von Diskonten in den Provinzen seitens der
Reichsbank das Angebot derselben am offenen Markte gesteigert. Die großen finanziellen Operationen, welche stattfanden, haben
ebenfalls die Kräfte der Banken in Anspruch genommen. Auch sind wohl fremde Guthaben, welche in Deutschland
[* 14] standen, besonders
seitens der russischen Regierung, zurückgezogen worden. Zuerst (im April) sprach sich der gesteigerte
Geldbedarf in der Vermehrung derAnlage von Wechseln und Lombarddarlehen bei der Reichsbank aus. Es waren durchschnittlich bei
letzterer angelegt:
¶