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Zweifel, daß auch ein Messen innerer Akte an den parallel gehenden äußern Ereignissen dem Psychologen erlaubt und wertvoll ist. Ebenso wie der Physiker mit dem Thermometer [* 2] Wärmegrade an Längenverschiedenheiten und mit dem Galvanometer [* 3] Stromstärken an Winkelgrößen mißt, ebenso mißt der Psycholog Zeit oder Stärke [* 4] psychischer Prozesse an dem äußern und andersartigen Phänomen des Zwischenraums zwischen zwei Bewegungen oder der objektiven Intensität von Helligkeiten.
Ein solches Verfahren wird wesentlich durch zwei Grundeigenschaften der Seele ermöglicht, nämlich durch die eine, daß innere Geschehnisse sich in Bewegungen äußern, und durch die andre, daß wir unmittelbar zwischen Gleich und Ungleich unterscheiden. Auf jene führen die Reaktionsversuche zurück, auf diese sämtliche Messungen in der Sphäre der Sinnesempfindungen. Ergänzend treten seelische Eigenschaften hinzu, welche nur einem besondern Komplex (z. B. dem Gedächtnis) angehören, und die gedeihliche Fortentwickelung der numerischen Methode dürfte von der Auffindung weiterer solcher Sondereigenschaften abhängen. So oft die Methode nicht bloß geistige Geschehnisse in Zahlen einfängt, sondern direkt mißt, darf sie den Namen Psychometrie beanspruchen. Zu den aufgezählten Untersuchungsweisen treten namentlich noch viele Hilfsmethoden, z. B. die speziell anatomische oder die sprachwissenschaftliche.
Forschungsgebiete der Psychologie.
Die folgende Übersicht beansprucht nicht den Wert einer systematischen oder gar erschöpfenden Darstellung. Sie wünscht nur diejenigen Felder zu umgrenzen, auf denen augenblicklich mit Erfolg gearbeitet wird. Daß darunter die sogen. physiologische Psychologie fehlt, hat seinen Grund. Die von ihr versuchte Vermischung zweier gänzlich heterogener Reihen ist schlechterdings unmöglich; was in ihrem Bereich geleistet worden ist, gehört entweder der Psychologie oder der Physiologie oder der Psychophysik an oder beschränkt sich endlich auf eine Förderung der Methodik.
1) Psychogenesis, d. h. Erforschung der Entstehung psychischen Lebens in der Urzeit. Eng verknüpft mit den Grundfragen der Anthropologie und des Darwinismus, hat sie bisher mehr Probleme als Lösungen zu Tage gefördert. (Häckel, »Natürliche Schöpfungsgeschichte«, 8. Aufl., Berl. 1889).
2) Individualpsychologie. Ihr Gegenstand ist ein normaler, erwachsener Kulturmensch und zwar sowohl seine Funktionen (z. B. Stumpf, »Tonpsychologie«, Leipz. 1883-90,2 Bde.) als seine Arten (Simmel, »Die Psychologie der Frau« in der »Zeitschrift für Völkerpsychologie«, 1889; Dilthey, »Dichterische Einbildungskraft«, Leipz. 1886). Eins ihrer wesentlichsten Hilfsmittel liegt in Selbstzeugnissen und Biographien abgeschlossener Individualitäten, ja sogar in poetischen Darstellungen (die »psychologische Schule« unter den französischen Romanschriftstellern).
3) Psychophysik (s. d.). Eigentlich eine ebenso selbständige Wissenschaft wie Psychologie und wie Physik, dadurch indessen, daß die durch den Wechsel der äußern Einflüsse herbeigeführten Veränderungen im innern Geschehen eben über dieses innere Geschehen selbst Aufschlüsse enthalten, von besonderer Bedeutung für den Psychologen. Die Psychophysik untersucht mittels exakter Wertzeichen: a) die Empfindung, eine psychologische Thatsache, welche unmittelbar von gewissen äußern Grundbedingungen abhängt, und b) die Bewegung aus innerm Antrieb, einen physiologischen Vorgang, dessen Ursachen sich im allgemeinen nur in der Selbstbeobachtung zu erkennen geben.
4)-6) Sozialpsychologie, die Wissenschaft vom seelischen Menschen als von einem gesellschaftlichen Wesen.
4) Ethnologische Psychologie, besonders durch Adolf Bastian vertreten. Ihre Hauptgedanken sind die folgenden: a) Das Individuum, für sich als etwas Selbständiges betrachtet, existiert in der sozialen Wirklichkeit nicht, ist eine Abstraktion. Die Menschheit, ein Begriff, der kein Höheres neben sich kennt, ist für die umfassende Psychologie zum Ausgangspunkt zu nehmen, als das einheitliche Ganze, innerhalb dessen der Einzelmensch (das »politische Tier«) nur als integrierender Bruchteil figuriert. b) Diese seelische Menschheit findet sich gewissermaßen niedergeschlagen in den Völkergedanken, d. h. in den ursprünglichsten und eigentümlichsten menschheitlichen Gedanken; in ihnen, nicht in den subjektiv individuellen Empfindungen, offenbart sich das Wesen des Psychischen. c) So entsteht die Aufgabe einer Gedankenstatistik, die Aufgabe, ein Inventar über die Machtsphäre des innern Lebens aufzunehmen.
Alle Zeiten und alle Völker müssen berücksichtigt werden, nicht bloß, wie üblich, die Kulturvölker, denn das wäre ebenso, als ob man die Botanik auf die Kulturpflanzen beschränken sollte. Es gilt demnach, alles zu sammeln, zu vergleichen, nach höhern Einheiten zusammenzuordnen und in einer Entwickelung darzustellen; denn es wird vorausgesetzt, daß im Bereich der Ideen der Völker oder des menschheitlichen Geisteslebens nicht minder ein organisches Wachstum statthat wie auf dem Gebiete des körperlichen Lebens. d) Die Buntheit der Lokaldifferenzen stört diese Arbeit nicht, im Gegenteil, sie läßt sich nützlich verwerten, da, den abgeschlossenen Kreisen einer bestimmten Fauna oder Flora entsprechend, eine geographische Provinz auch für den psychischen Menschen existiert und als solche beschrieben werden kann. Dagegen fehlt der Völkerkunde ebenso wie etwa der Zoologie zunächst jede Berührung mit der Chronologie.
5) Völkerpsychologie, von Lazarus und Steinthal begründet und in der von beiden seit 1860 herausgegebenen »Zeitschrift für Völkerpsychologie« gepflegt. Sie sucht aus den einfachsten Erzeugnissen der menschlichen Geselligkeit den umfassenden Organismus des Volksgeistes zu erklären, so daß wir allmählich alle wesentlichen Formen und Erzeugnisse des Zusammenlebens der Menschheit, wie Familie, Staat, Stände, Religion, Litteratur etc. nach- und nebeneinander entstehen, sich gegenseitig fördern und hemmen sehen. Es soll eine neue Beziehung geschaffen werden zwischen der Geschichte als einer Art beschreibender Naturgeschichte des Geistes und der Völkerpsychologie als einer Art erklärender Physiologie des geschichtlichen Lebens der Menschheit. Gegen dieses Programm haben Einwände erhoben E. v. Hartmann, H. Paul und W. Wundt; letzterer begrenzt ihre Aufgabe auf Sprache, [* 5] Mythus und Sitte.
6) Sprachpsychologie. Sie untersucht die psychologische Entstehung und Wirkung der Sprache. Die Entwickelung des Gefühls und das Verhältnis zwischen Fühlen und Denken läßt sich an den Sprachen sehr schön verfolgen, denn sie entstehen aus Gefühlen, werden zum Ausdruck des Wissens und kehren gelegentlich wieder zu ihrem Ursprung zurück. Dabei zeigt sich die Bedeutung des Prinzips des kleinsten Kraftmaßes: eine zweckmäßig arbeitende Organisation löst eine ihr obliegende Aufgabe mit den relativ geringsten Mitteln. Das kraftersparende Mittel der Seele ist aber die Gewohnheit, wie sie sich z. B. in der Analogiebildung aller Sprachen äußert, also etwa darin, daß wir von dem Alter als von dem ¶
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Lebensabend sprechen.
Vgl. Avenarius, Philosophie als das Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes (Leipz. 1876);
Steinthal, Grammatik, Logik und Psychologie (Berl. 1855);
Bruchmann, Psychologische Studien zur Sprachgeschichte (Leipz. 1888).
7) Kinderpsychologie. Die Erforschung des kindlichen Seelenlebens in seiner allmählichen Ausbildung hat zu wertvollen Ergebnissen über die Elemente unsrer psychischen Struktur geführt und unter anderm gezeigt, daß logisches Denken bereits in der Zeit vor dem Sprechenlernen sich vollzieht, aber wesentlich durch Bildungsvorgänge in der Gefühls- und Triebsphäre bedingt ist. Beobachtung und reines Experiment, welche beide bisher fast ausschließlich angewendet worden sind (vgl. Preyer, Die Seele des Kindes, 3. Aufl., Leipz. 1890), müßten freilich durch das numerische Experiment so ergänzt werden, daß über das Gedächtnis etc. in den verschiedenen Lebensaltern des lernenden Kindes genaue Daten vorliegen, wodurch wir natürlich noch nicht zu einer ebensolchen genauen Bestimmung der geistigen Fähigkeiten wie der Körperlänge und -Schwere gelangen. Im übrigen hat sich bereits Erforschung, Erweiterung und Verwertung der kindlichen Erfahrung sowohl für den Gang [* 7] der gesamten Erziehung als auch im einzelnen für Auswahl und Anordnung des Lehrstoffes von Nutzen erwiesen.
Vgl. Baumann, Pädagogische Psychologie (Leipz. 1890);
Lange, Über Apperzeption (3. Aufl., Plauen [* 8] 1889);
L. Strümpell, Pädagogische Pathologie (Leipz. 1890).
8) Tierpsychologie. Insoweit sie nicht mit der Psychogenesis (Nr. 1) zusammenfällt, hat sie einerseits mit dem ungenügenden, meist anekdotenhaften Material, anderseits mit der Schwierigkeit zu kämpfen, die einfachen Thatsachen möglichst wenig nach Analogie des Menschen aufzufassen. Aus letzterm Grunde wird z. B. gewöhnlich der Schmerz der Tiere in sentimentaler Weise überschätzt. Die beiden Hauptprobleme der Tierpsychologie sind: a) der Instinkt. Begriffsbestimmung und Erklärung desselben sind noch durchaus nicht zur Klarheit gelangt (vgl. Forel, Les fourmis de la Suisse, Genf [* 9] 1874; Romanes, Die geistige Entwickelung im Tierreich, Leipz. 1885). b) Ausdehnung [* 10] des Bewußtseins.
Haben alle, oder welche Tiere haben Bewußtsein? (s. d.) Ein Teil von Forschern ist geneigt, in der willkürlichen Hemmung der Reflexbewegungen das Zeichen des Bewußtseins zu sehen; ihnen zufolge stellt der Reflex die Grundfunktion der Nervenzentra dar, ist nur gelegentlich von dem Epiphenomenon des Bewußtseins begleitet und nur dann mit Sicherheit, wenn er willkürlich verlangsamt oder gehemmt wird. Erst da, wo in der Tierreihe psychische Reflexe und Reflexhemmungen auftreten, soll das Seelenleben beginnen (vgl. Richet, Les réflexes psychiques in der »Revue philosophique«, 1889). Diesem panzoologischen Standpunkt tritt die pananthropologische Auffassung gegenüber, welche den bewußtseinsfreien Reflex gar nicht gelten lassen will, sondern sogar bei den untersten Tieren (Binet, The psychic life of microorganisms, Chicago 1890) oder selbst schon bei der biologisch als einseitig entwickeltes Tier anzusehenden Pflanze eine Art Seelenleben finden will.
Das Bewußtsein sei nicht ausschließlich an die obersten Teile des Gehirns oder überhaupt an ein Gehirn [* 11] gebunden. Wir müssen dem Protoplasma sowie allen, doch nichts wie Protoplasma darstellenden Nervenzellen Bewußtseinsfähigkeit zusprechen, deren aktuelles Bewußtsein einesteils von der Erweckung durch äußere Reize abhängt, andernteils durch ein Hemmungsvermögen der obern Hirnteile in seinen Erscheinungen unterdrückt werden kann (vgl. Meynert, Gehirn und Gesittung, Wien [* 12] 1889; Schneider, Der tierische Wille, Leipz. 1880).
9) Rechtspsychologie. Sie gehört halb zur Völkerpsychologie, nämlich insofern sie sich mit der psychologischen Entstehung und Bedeutung des Rechtes und der Rechtsbegriffe beschäftigt. Willenserklärung, Irrtum, Handlungsfähigkeit, Deliktsfähigkeit und ähnliche Begriffe werden von ihr untersucht. Zur andern Hälfte kann sie als eine selbständige Disziplin betrachtet werden, nämlich insofern sie in das Strafrecht eintritt; die Kriminalpsychologie erforscht Komplexe wie Schuld, Sühne, Strafe, Zurechnung (Zurechenbarkeit der Handlung, Zurechnungsfähigkeit der Person), kurz, das Wollen in allen seinen konstitutiven Bedingungen und in seinen Ausstrahlungen bis zur Verneinung und Aufhebung.
Neuerdings hat sich hier eine Richtung entwickelt, welche sich selbst die kriminal-anthropologische Schule nennt und ein neues Strafrechtssystem verlangt, von dem die bedeutendsten deutschen Theoretiker und Praktiker indessen noch nichts wissen wollen. Danach existiert eine Gruppe geborner, durch erbliche Degeneration verkümmerter Defektmenschen, bei welchen die Entwickelungshemmung vornehmlich durch den Mangel aller sittlichen Vorstellungen und durch das ausschließliche Vorwalten rohester egoistischer Gefühlsthätigkeit sich kundgibt. Das sind die Gewohnheitsverbrecher, und ihre wichtigsten Zeichen auf psychischer Seite sind: a) unmotivierter plötzlicher Stimmungswechsel, b) schwere Krampfzustände, c) Bewußtseinsstörungen mit darin auftretenden unsinnigen und Gewalthandlungen.
Vgl. Lombroso (s. d.), Der Verbrecher (Hamb. 1889-90,2 Bde.);
»Archives d'anthropologie criminelle«, 1890.
10) Pathopsychologie. Das pathologische Experiment, welches die Natur anstellt, indem sie eine geistige Krankheit hervorruft, bietet ein wichtiges Erfahrungsmaterial für die Psychologie, denn die Geisteskrankheiten bedeuten meistens eine Dissociation der psychischen Funktionen durch Herabsetzung oder Übertreibung gewisser normaler Prozesse. Daher bildet die Pathopsychologie die Grundlage der Psychiatrie, abgesehen davon, daß letztere als klinische Wissenschaft auch die körperlichen Vorgänge im Gehirn zu berücksichtigen hat (pathologische Hirnanatomie). So hat z. B. die Widerlegung der Seelenvermögenslehre dazu geführt, daß man die Vorstellung einzelner Manien (Pyromanie etc.) bei sonst unversehrter Geisteskraft aufgeben mußte.
Vgl. v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der Psychiatrie (4. Aufl., Stuttg. 1890).
11) Okkultismus. Mit diesem sehr schlechten, aber durch keinen bessern zu ersetzenden Namen soll das Gebiet derjenigen psychischen Erscheinungen bezeichnet werden, welche aus dem gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens heraustreten, ohne doch schon der Pathologie anheimzufallen. Gemeint sind (Traum), Hypnose, Ekstase, (Gedankenübertragung, Hellsehen) etc. Ja der Untersuchung dieser erst seit kurzem dem Aberglauben entrissenen Phänomene stehen sich zwei Parteien gegenüber. Die eine (Moll, Dessoir u. a.) versucht durch schärfste Prüfung die wirklichen Thatsachen auszumitteln, sie in Verbindung mit den übrigen von der wissenschaftlichen Psychologie behandelten Vorgängen zu bringen und ihre Gesetze festzustellen (vgl. Moll, Der Hypnotismus, 2. Aufl., Berl. 1890). Die andre Richtung (Hellenbach, du Prel u. a.) ist wesentlich von metaphysisch-religiösen Gesichtspunkten geleitet; sie will aus den ¶