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Neuen Zürcher Zeitung vom 20.-21. Juli 1905). In neuester Zeit droht leider eine Sprachenfrage einzureissen, die besonders in Zeitungsartikeln diskutiert wird, hier aber nicht weiter berührt werden kann. Wir machen auf die zahlreichen Artikel von E. Blocher und J. Zemmrich in der Zeitschrift Deutsche Erde (1902-1907) aufmerksam.
2. Einführung des Französischen als offizielle Sprache.
Das Lateinische ist bei uns verhältnismässig lange Zeit die Sprache der Urkunden geblieben. Dies gilt namentlich für das Wallis, wo diese Tradition bis über das 16. Jahrhundert hinaus zu Recht bestand. Ueberall, wo das Lateinische als Sprache der Urkunden in Abgang kam, wurde es durch das Pariser Französisch (in Freiburg gleichzeitig auch durch das Deutsche) ersetzt. Di ältesten in französischer Sprache abgefassten Urkunden datieren von 1244 (Berner Jura), 1250 (Moudon), 1251 (Neuenburg), 1260 (Genf). Das erste französisch redigierte Mandat der Stadt Freiburg stammt aus dem Jahr 1319. Wie man sieht, kann eine bestimmte Zeit für die Einführung der neuen Sprache kaum aufgestellt werden. Diese ist zunächst eine Notariats- und Kanzleisprache gewesen, die während mehreren Jahrhunderten bei uns wohl geschrieben, nicht aber auch vom Volk gesprochen wurde, und nur sehr langsam und unmerklich in allen Verwaltungszweigen obligatorisch wurde. Vor nicht länger als etwa fünfzig Jahren verhandelte man in den Gemeindeversammlungen des Val de Ruz noch in der angestammten Mundart, die aus den Beratungen der Dörfer des Wallis, des Berner Jura und namentlich des Kantons Freiburg heute noch nicht vollständig verschwunden ist. Ein strenges Auseinanderhalten der geschriebenen und der aus dem Volksherzen kommenden gesprochenen Sprache war überhaupt lange Zeit ein Ding der Unmöglichkeit. Das Erlernen des von der allgemein gebräuchlichen Volkssprache sehr stark abweichenden fremden Idiomes gestaltete sich zu Zeiten, die unserer heutigen Schul- und Verkehrsverhältnisse noch entbehrten, zu einer fast unerfüllbaren Aufgabe. Die ungenügende Vertrautheit mit der fremden Schriftsprache geht in den Texten des 13. bis 15. Jahrhunderts aus der Mischung von mundartlichen und französischen Formen deutlich hervor und zeigt sich ganz besonders in der Anwendung einer grossen Menge von Ausdrücken der gewöhnlichen Umgangssprache, deren französische Aequivalente den Schreibern nicht bekannt waren. Als Beispiel dieses Stiles gebe ich folgende Stelle einer Urkunde aus dem Freiburger Archiv (die nicht französischen Formen sind kursiv gesetzt): «Fait et dona l'ant de l'encarnation de nostro segnyour corent mil tres cent et deyx et no, ou moys de host.» Die falschen Formen sind in der Mehrzahl blosse unfreiwillige Versehen, während man in gewissen Urkunden allerdings auch eine relativ ständige Wiederkehr von unfranzösischen Formen feststellen kann. Wir konstatieren die Regularisierung einer lokalen Ueberlieferung, die - wie in der deutschen Schweiz - zu einer unabhängigen Kanzleisprache hätte führen können, wenn die Umstände dazu günstiger gewesen wären. Unüberwindliche Hindernisse bildeten aber namentlich die zu grosse Verschiedenheit der romanischen Dialekte und auch das Fehlen eines dominierenden geistigen oder politischen Mittelpunktes.
Nachdem das Französische zur Rechts- und Amtssprache geworden, ward es auch die Sprache des Gottesdienstes und der Schule. Die Vénérable Compagnie des Pasteurs in Genf befiehlt 1668 den Lehrern am Kollegium, von Seiten der Schüler keine Antworten im Dialekt mehr zu dulden. Diesem Beispiel folgten bald die übrigen bedeutenderen Städte. Auf dem Lande hat die Mundart im Unterricht bis zum 19. Jahrhundert ausschliesslich geherrscht, und noch heute kostet es in den ihren Ueberlieferungen treuer anhängenden katholischen Kantonen den Schulmeistern viele Mühe, ihre Schüler an das Französische zu gewöhnen, so dass Widerspänstige oft durch Strafen zur Ordnung gewiesen werden müssen.
In letzter Instanz ist das Französische auch in der Familie an die Stelle der Mundart getreten. Dieser Vorgang vollzog sich zuerst in den grössern Städten, und zwar wahrscheinlich mit nachstehender Reihenfolge: Genf um 1750, Neuenburg und Lausanne um 1800 (Freiburg und Sitten waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorwiegend deutsch). Es folgten die Landstädtchen und endlich auch die Bauernbevölkerung. Während der Vorgang der Französierung in den Städten eine Zeit von 6-7 Jahrhunderten erforderte, vollzieht er sich auf dem Lande in 30-40 Jahren.
Sobald einmal die sog. «besseren» Familien in der Erziehung ihrer Kinder sich der offiziellen Sprache zu bedienen angefangen haben, ist es mit der Herrschaft des Dialektes vorbei. Das von den Standespersonen gegebene Beispiel verbreitet sich wie eine Ansteckung, sodass man die Sprache eher aus Moderücksichten als infolge von Ueberlegung wechselt. Der ganze Vorgang bedeutet für die Kinder ein grosses Glück, da sie ihren Weg in der Welt mit einer nahezu internationalen Sprache leichter zu finden im Stande sind, als mit einem ungelenken und altertümlichen Dialekt, der in einer Entfernung von 50 km nicht mehr verstanden wird.
In der Beseitigung des Dialektes sind die protestantischen Kantone mit ihren Reformbestrebungen den katholischen Landesteilen vorangegangen. Der Vorgang ist stark beschleunigt worden durch den Anteil der Städte Genf, Lausanne und Neuenburg an der französischen Literatur, das Aufblühen der industriellen Tätigkeit im Neuenburger und Waadtländer Jura, sowie den immer inniger werdenden Kontakt mit dem Ausland. Grössere Bedachtsamkeit zeigten in diesem Punkte die vorwiegend agrikolen Gebiete Freiburgs, des Wallis und der Genfer Landschaft.
Dazu kommt, dass in den Kantonen Bern, Freiburg und Wallis das Beispiel der ihrer Mundart treu gebliebenen Mitbürger deutscher Zunge die linguistische Entwicklung der romanischen Bevölkerung verzögern konnte. Heute erinnern sich noch einige wenige Neuenburger des Dialektes, den keiner mehr spricht. Im Kanton Waadt haben das ganze Uferland am Genfersee, die Rhoneebene und das Jouxthal den Dialekt seit etwa 50 Jahren aufgegeben, während er im Gros de Vaud und im Alpengebiet noch eine kümmerliche Existenz fristet; im Kanton Bern kennen ihn die Amtsbezirke Courtelary (St. Immerthal) und Münster nicht mehr, während in der Ajoie (Amtsbezirk Pruntrut) ein Advokat die Mundart noch ein wenig verstehen muss, wenn er sich mit seinen Klienten leicht verständlich machen will.
Die alten Genfer Landgemeinden stehen etwa auf demselben Standpunkt wie das Gros de Vaud, während die 1815 dem Kanton neu angegliederten Gemeinden die Mundart etwas besser bewahrt haben. Auch das Greierzerland beginnt jetzt, der allgemeinen Strömung sich anzuschliessen, während der Dialekt im mittleren Teil des Kantons Freiburg und im Broyebezirk zwar stark eingeschränkt aber doch noch lebenskräftig ist. Das Wallis endlich bildet für den Dialektforscher immer noch das ausgibigste Untersuchungsobjekt, mit Ausnahme allerdings der Uferstriche längs der Rhone, die dem Beispiele der Städte gefolgt sind und eine stark gemischte Bevölkerung aufweisen. Wenn sich der Dialekt bis zum Ende unseres Jahrhunderts überhaupt irgendwo erhalten kann, so wird dies am ehesten noch in den Seitenthälern des Wallis der Fall sein.
Die romanische Bevölkerung ist nicht unmittelbar vom Dialekt zum reinsten Französisch übergegangen. Bei dem Ersatz der altgewohnten Sprache durch die französischen Laute hat zunächst die Aussprache zu leiden gehabt. So sprechen die Waadtländer, die in ihrem Dialekt «férə la mīma tsouza» mit deutlicher Artikulation der Schlussvokale zu sagen pflegen, den entsprechenden französischen Satz «faire la même chose» derart aus, dass sie die stummen e noch etwas nachklingen lassen. Da sie in der Mundart das Schluss -r in Wörtern wie «hiver, servir» etc. nicht aussprechen, übertragen sie diese Gewohnheit auch auf die entsprechenden französischen Ausdrücke.
Weil die Franzosen gewisse Schlusskonsonanten, wie in «fils, jadis» etc., ausnahmsweise artikulieren, haben die Welschen angefangen, solche Konsonanten auch dann, wenn sie in Frankreich nicht mehr gesprochen werden, ertönen zu lassen, wie z. B. in «avis etc.», die sie als avisse etc. aussprechen. Ferner gibt man oft dem französischen Substantiv irrtümlich dasjenige Geschlecht, welches das entsprechende Dialektwort gehabt hatte: «un vitre, un poire, une lièvre, une serpent» etc. Die grösste Schwierigkeit bestand aber in der sinngemässen Aneignung und Anwendung des fremden Wortschatzes. Die Dinge, die ihr Aussehen beibehalten hatten, ¶
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erinnerten immer noch an den alten Ausdruck, und sehr oft entsprach auch das französische Wort dem Gedanken nicht genau, sondern erschien entweder als zu farblos oder als zu wenig energisch: in allen diesen Fällen hatten und haben die Welschen immer noch die starke Tendenz, ihre alten Ausdrücke beizubehalten, indem sie dieselben allerdings französieren. Daher stammen Wortformen wie ruper, rebedouler, aguiller, éclafer, piorne, bringue etc. Alle diese Sprachfehler lassen sich aus dem Dialekt erklären und sind dessen letzte Lebensäusserungen.
Diese sog. Provinzialismen werden dank den Anstrengungen der Sprachreiniger, sowie mit der Vertiefung der allgemeinen Bildung und zunehmender Entwicklung der Verkehrsmittel, die zurückgebliebene Individuen in eine besser französierte Umgebung versetzen, allmählig verschwinden. Einem patriotischen Antrieb folgend haben verschiedene Romanschriftsteller ihre Werke mit provinziellen Wörtern und Redewendungen gespickt, um ihnen einen ausgeprägten Erdgeschmack zu verleihen. Doch ist auch diese Zeit bereits vorüber, indem in der neuern Literatur die Provinzialismen mehr nur zur Erzielung eines komischen Effektes Verwendung finden.
Bibliographie. 1. Sprache der Urkunden: Meyer, P. Maître Cudrifin, horloger, et la ville de Romans (in der Romania. Bd. 21). - Girardin, J. Le vocalisme fribourgeois du 15. siècle (in der Zeitschrift für roman. Philologie. 24). - Ränke, H. Ueber die Sprache des französ. Wallis in der Zeit vom 11. bis 14. Jahrh. Halle 1903. - Jeanjaquet, J. Un document inédit du français dialectal de Fribourg (in: Aus roman. Sprachen und Litt. Halle 1905.) - 2. Vitalität der Mundarten: Ritter E. Recherches sur le patois de Genève (in den Mémoires et documents de la Soc. d'hist. et d'archéol. de Genève. 19). - Tappolet E. Ueber den Stand der Mundarten in der deutschen und franz. Schweiz. Zürich 1901. - 3. Hauptsächlichste Sammlungen der Provinzialismen: Humbert, J. Nouveau glossaire genevois. 2 vol. Genève 1852. - Callet, P. M. Glossaire vaudois. Lausanne 1861. - Grangier, L. Glossaire fribourgeois. Fribourg 1864. - Bonhôte, J. H. Glossaire neuchâtelois. Neuchâtel 1867. - Pludhun. Parlons français. - Vergl. auch: Platzhoff-Lejeune, E. Der Kampf mit Herrn Pludhun und der sprachliche Purismus (in den Basler Nachrichten vom anlässlich eines im Foyer Romand für 1905 erschienenen Artikels Parlons clair von Phil. Godet und einer von der Semaine littéraire veranstalteten Enquête).
Erklärung der in den Dialektproben vorkommenden Zeichen. | |
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Vokale: | ę, į, ọ, ų, œ, ü = offene Laute. |
ẹ, ị, ọ, ụ, œ, ü = geschlossene Laute. | |
ã, ẽ, ĩ etc. = nasalierte Vokale (französ.: an, vin etc.). | |
ä hält die Mitte zwischen a und ę. | |
å hält die Mitte zwischen a und ọ. | |
u hat latein.- (italien.-) deutschen Wert (französ. mou). | |
ə = schwaches e (deutsch: haben; französ.: me). | |
œ ist Mittellaut zwischen œ und ę. | |
ü ist Mittellaut zwischen ü und i. | |
Reduzierte Vokale werden in kleinerer Schrift über der Zeile angegeben. | |
- über einem Vokal bedeutet eine Länge; kurze oder mittlere Vokale werden nicht besonders gekennzeichnet. | |
Der Wortakzent wird nur angegeben, wenn ein Zweifel obwalten kann, und zwar durch einen Punkt hinter dem betreffenden Vokal: vwę.ypa. | |
Halbvokale: | y (französ.: yeux; deutsch: ja), w (französ.: oui), ẅ (französ. puis) |
Konsonanten: | s ist immer scharf (französ.: place), z ist weich (französ.: rose). |
š = deutschem sch, französ. ch; ž der entsprechende weiche Laut (französ. jour). | |
č, ğ = italien. cento, gente; ć, ģ dieselben Laute, etwas weiter hinten gebildet. | |
k = am weichen Gaumen gebildete reine Fortis (gg). | |
ќ = alemannisches, am harten Gaumen gebildetes k. | |
χ = Laut des deutschen ach. | |
ж = Laut des deutschen ich. | |
ŋ = Laut des deutschen Angel. | |
ł, ñ = mouilliertes l oder n (italien.: famiglia, vigna). |
3. Geschichte der französischen Mundarten.
Wenn wir von den ligurischen Theorien absehen, die noch wenig sicher fundamentiert sind, so war die älteste westschweizerische Bevölkerung, die man einer linguistischen Gruppe zuzuteilen vermag, gallischen Stammes. Es ist unmöglich, den Zeitpunkt des Erlöschens der keltischen Sprache festzustellen. Die fortschreitende Romanisierung ist in gewissen Zentren auf Widerstand gestossen (wie dies z. B. die Erzählung von Julius Alpinus beweist) und muss in den am weitesten abgelegenen Alpenthälern auch nur unvollkommen gelungen sein.
Das Lateinische ist von den Kelten mit einem besondern Akzent gesprochen worden, doch hat man bis jetzt keine sichern Ueberreste davon in den modernen Mundarten nachzuweisen vermocht. Solange man den westschweizerischen Wortschatz nicht vollständig gesammelt haben wird, wird es unmöglich sein, die von der Sprache des siegreichen Rom herstammenden Ausdrücke von solchen zu scheiden, die aus keltischen Dialekten stammen mögen. Das darf man aber heute schon versichern, dass alle zur Bezeichnung der hauptsächlichsten täglichen Arbeiten und Beschäftigungen dienenden Wörter rein lateinischer Herkunft sind. In dieser Beziehung beschränkt sich in den Mundarten, wie im Französischen der keltische Einschlag auf einen verschwindend kleinen Anteil.
Die Erinnerung an die ältesten Zeiten hat sich am besten erhalten in den Ortsnamen, die gleichsam eine abgekürzte Geschichte unseres Wortschatzes darstellen. Obwohl sie heute zum grossen Teil als rätselhafte Benennungen erscheinen, hatten sie doch ehemals eine ganz bestimmte Bedeutung, deren Sinn im Laufe der Zeiten verloren gegangen ist. Streng wissenschaftliche Forschungen werden uns diesen Sinn wieder enträtseln. Die von Prof. E. Muret in Genf geleitete systematische Ortsnamen-Untersuchung berechtigt zu den schönsten Hoffnungen.
Ein neues Element haben der gallo-romanischen Sprache die Einfälle der Germanen hinzugefügt, durch welche die Lautgebung von neuem modifiziert und die ganze Sprache vom 5.-9. Jahrhundert von Grund aus umgestaltet worden ist. Dieser Epoche gehören u. a. an: die Palatalisierung des c vor e, i (centum = kyentu, heute sã, sẽ, θẽ etc.), sowie des c vor a (vacca = vakya, heute vatš[ə], vętš, vatsə, vaθ);
ferner die Diphthongierung der betonten Vokale in offenen Silben (habere = aveir, heute avāe, avę etc.; nepote = nevout, heute nevāo, nęvœ etc.).
1) [1) Siehe die Erklärung der verwendeten Zeichen in der Tabelle.]
Die fränkische Oberherrschaft (532-888) hat ein gemeinsames Band um alle Dialekte Mittel- und Nordfrankreichs, sowie des alten Burgunderreiches geschlungen. Die sprachliche Entwicklung war für diese Länder dieselbe, und irgendwo in diesem weiten Ländergebiet aufgekommene mächtige phonetische Tendenzen haben sich unmerklich bis an dessen Grenzen fortgepflanzt.
Mit der Wiederherstellung des Burgunderreiches erhob sich im Westen und im Norden eine Schranke; die Beziehungen zu Frankreich lockerten sich, und die Weiterentwicklung der Sprache gestaltete sich hüben und drüben in selbständiger Weise. In die Zeit nach 888 fallen sprachliche Umänderungen, die nur unserm ¶