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Als dann noch im Juni Englands Absicht auf ein bewaffnetes Einschreiten immer deutlicher wurde, Freycinet aber nur zu einer gemeinsamen Besetzung des Sueskanals, nicht aber zu Operationen gegen Arabi bereit war, befriedigte er damit niemanden in Frankreich, und der von ihm für jene Teilmaßregel verlangte Kredit von 10 Mill. Frs. wurde in der Kammer mit 450 gegen 75 Stimmen abgelehnt. Darauf reichte das Kabinett Freycinet sein Entlassungsgesuch ein, und Senator Duclerc bildete 7. Aug. ein neues Ministerium, worin er das Präsidium und das Auswärtige, Fallières das Innere, Tirard die Finanzen übernahm.
Dieses Ministerium, das keine einzige Persönlichkeit von hervorragender Bedeutung, aber vier ausgesprochene Anhänger Gambettas in sich schloß, wurde nur als ein «Verlegenheitsministerium» bezeichnet. Natürlich hatte die franz. Politik der Enthaltsamkeit nur dahin geführt, daß England nun die Lösung der ägypt. Krisis allein in die Hand [* 2] nahm und nach dem raschen Siege bei Tel el-Kebir sich zum alleinigen Herrn Ägyptens machte. Lord Granville erklärte, daß England künftig die Finanzkontrolle in Ägypten [* 3] allein zu führen gedenke und machte Frankreich nur das Zugeständnis des Vorsitzes in der Staatsschuldenkommission.
Duclerc nahm dies nicht an und bestand auf dem vertragsmäßigen Recht F.s auf Fortdauer der gemeinsamen Kontrolle. Aber Englands Entschluß war unwiderruflich, und zu spät erkannte Frankreich, daß es durch seine Nichtteilnahme an der ägypt. Expedition sich selbst eine Niederlage bereitet habe. Einen Ersatz hierfür suchte Frankreich durch Expeditionen nach fernen Weltteilen sich zu verschaffen. Es beanspruchte das Protektorat über einen Teil der Insel Madagaskar, [* 4] wobei es England und die Vereinigten Staaten [* 5] von Amerika [* 6] zu Gegnern hatte; es rüstete sich zu einer Expedition nach Tongking, [* 7] obgleich es dadurch in einen Konflikt mit China [* 8] kommen mußte; es wollte, auf den von dem franz. Afrikareisenden de Brazza mit einigen Häuptlingen abgeschlossenen Vertrag sich stützend, am Kongo weite Gebiete in Besitz nehmen und beeinträchtigte dadurch die Hoheitsrechte Portugals.
Da starb Gambetta und mit ihm schwand dem Ministerium Duclerc der Boden unter den Füßen. Welche außerordentliche Bedeutung Gambetta in Frankreich gehabt hatte, zeigte sich alsbald darin, daß mit seinem Tode die Feinde der Republik ihre Zeit gekommen glaubten. Schon im Sept. 1882 hatten anarchistische Unruhen in Monceau und Lyon [* 9] stattgefunden, und beim Leichenbegängnis Louis Blancs, der 6. Dez. gestorben war, war es auch in Paris [* 10] zu ähnlichen Demonstrationen gekommen.
Zwei Wochen nach dem Tode Gambettas brachte der Prinz Jérôme Napoleon, der, nachdem Prinz Louis Napoleon in Afrika [* 11] gefallen war, der Träger [* 12] der napoleonischen Ansprüche war, durch Plakate, die er in der Nacht zum an den Mauerecken von Paris anschlagen ließ, den Bonapartismus als den einzigen Retter des Staates und der Gesellschaft in Erinnerung. Da die Regierung in diesem Plakat eine Aufforderung zum Umsturz der Verfassung erblickte, ließ sie den Prinzen 16. Jan. verhaften, doch wurde er infolge eines Ausspruchs der Anklagekammer 9. Febr. freigelassen.
Gleichzeitig mit dieser bonapartistischen Kundgebung fanden im südlichen Frankreich legitimistische Bankette statt, und die Orleanisten wiesen auf den Herzog von Aumale als den künftigen Präsidenten der Republik hin, der dem Grafen von Paris die Bahn zum Throne ebnen sollte. Die Republik schien bedroht, schien die Beute desjenigen zu sein, der rasch zugriff. Diese Prätendentenfurcht verursachte in der Kammer einen Antrag Floquets, der sämtliche Prinzen früher in Frankreich regierender Dynastien ohne Unterschied aus Frankreich, Algerien [* 13] und den Kolonien verbannen wollte. Da eine Kabinettskrisis darüber auszubrechen drohte, so setzte die Kommission an Stelle des Floquetschen Antrags den Antrag Favre, der nur verlangte, daß die Ausweisung der als staatsgefährlich angesehenen Prätendenten dem freien Ermessen der Regierung anheimgestellt werden, alle andern Mitglieder der Familien aber, die früher in Frankreich regiert hatten, weder Wahlrechte ausüben noch eine Stellung im Civil- und Militärdienst bekleiden sollten.
Da in dieser Frage keine Einigkeit im Ministerrat herrschte, so erfolgte der Rücktritt des Ministeriums Duclerc, worauf der Gambettist Fallières ein neues provisorisches Kabinett bildete, worin später General Thibaudin, der in der deutschen Kriegsgefangenschaft von 1870 sein Ehrenwort gebrochen hatte, das Kriegsministerium übernahm. Aber auch dieses Ministerium war der kritischen Lage nicht gewachsen, und die Prätendentenfrage brachte es schon 18. Febr. zu Fall. Ein Ministerium trat 19. Febr. an seine Stelle, das größtenteils aus Gambettisten bestand und worin Ferry das Präsidium und den Unterricht, Challemel-Lacour das Auswärtige, Waldeck-Rousseau das Innere, Raynal die öffentlichen Arbeiten übernahm, während Thibaudin das Kriegsministerium behielt.
Darauf wurden 24. Febr. Dekrete des Präsidenten Grévy veröffentlicht, die, auf Grund der Gesetze vom vom vom den Divisionsgeneral Herzog von Aumale, den Oberst Herzog von Chartres und den Artilleriehauptmann Herzog von Alençon in Disponibilität versetzten, weil die Grundsätze der militär. Unterordnung und einheitlichen Disciplin geschwächt erscheinen könnten durch das Verbleiben dieser Offiziere an der Spitze der Armee, denen bereits durch ihre Geburt eine Ausnahmestellung eingeräumt sei.
Die von der äußersten Linken beantragte Verfassungsrevision auf die Tagesordnung zu stellen, lehnte Ferry ab und setzte es durch, daß die Kammer den Antrag, die Revisionsanträge in Erwägung zu ziehen, nicht annahm und dem Ministerium ein Vertrauensvotum beschloß. Da der fortwährende Ministerwechsel die Autorität der Republik in Frage stellen mußte, so einten sich jetzt die Fraktionen der Republikaner im Vertrauen auf Ferry, der nun über 2 Jahre lang das Staatssteuer in Händen zu halten vermochte.
Dies ermöglichte die Durchführung einer Anzahl neuer Gesetze. Zunächst wurde eine Justizreform in Angriff genommen. In den ersten Junitagen 1883 nahm die Kammer einen Entwurf an, der zwar nicht geradezu die Aufhebung der Unabsetzbarkeit der Richter enthielt, wohl aber einen Artikel (XII), wonach der Justizminister die Befugnis haben sollte, 3 Monate nach der Bekanntmachung des Gesetzes zur Reorganisierung sämtlicher Gerichte zu schreiten, d. h. innerhalb dieser Zeit in seinem Departement frei zu schalten, Richter abzusetzen und zu ernennen. Der Minister hatte damit Gelegenheit, den Richterstand von so manchen antirepublikanischen ¶
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Elementen zu säubern. Am 25. Juli genehmigte der Senat das Gesetz mit geringen Modifikationen, denen die Kammer am 31. zustimmte. In demselben demokratischen Zuge bewegten sich auch die andern Reformen im Innern: die Abschaffung des religiösen Eides bei Gericht und die Wiedereinführung der Ehescheidung. Ferner die längst verlangte Verfassungsänderung, die Ferry 1884 nicht mehr umgehen konnte. Er unternahm sie vornehmlich im Sinne einer Reorganisation des Senats, indem er 24. Mai eine Vorlage einbrachte, die ein Vierfaches bezweckte: einmal, daß keine Revision sich auf die Abschaffung der Republik ausdehnen dürfe, zweitens die Abänderung des Senatswahlgesetzes, drittens die Beseitigung der lebenslänglichen Senatoren, und endlich die Beschränkung des Budgetrechts des Senats.
Der letzte Punkt war beim Senat nicht durchzusetzen, und man ließ ihn fallen. Dagegen ward erreicht, daß an die Stelle der 75 lebenslänglichen Senatoren solche traten, die nur auf 9 Jahre ernannt wurden, und zwar von beiden Kammern, während die übrigen von erweiterten Wahlkörpern, in die fortan die franz. Gemeinden je nach ihrer Größe einen oder mehrere (Paris 30) Wahlmänner senden, gewählt wurden Einige Monate vorher, hatte der nach Versailles [* 15] berufene Kongreß als Staatsgrundgesetz erklärt, daß kein Mitglied der ehemaligen Regentenhäuser jemals zum Präsidenten der Republik gewählt werden dürfe, und daß die endgültige Regierungsform F.s die republikanische sei.
Während der Festigungsprozeß der Republik in dieser Weise fortschritt, verloren die Legitimisten in dem Grafen Chambord (Henri V.) ihren Thronprätendenten Nun wurde der Graf von Paris von Legitimisten und Orleanisten als legitimer Thronkandidat angesehen. Derselbe hielt sich aber zunächst von polit. Kundgebungen fern. Ebensowenig trat Prinz Napoleon, das Haupt der Bonapartisten, hervor, weil sich der konservativ-klerikale Teil seiner Anhänger von ihm ab und im Mai 1884 seinem Sohne Victor zuwandte.
Mit der Konsolidierung der Republik Hand in Hand ging der Fortschritt in Fragen der Kirche und Schule, woraus schon im April 1883 ein Zerwürfnis mit den ultramontanen Bischöfen zu entstehen drohte, die einige an Staatsschulen benutzte Lehrbücher in ihren Hirtenbriefen verboten. Die Regierung erklärte dies als Anmaßung und betonte ihr Recht, widerstrebenden Priestern den Gehalt zu verweigern. Sie entwarf ein Gesetz über die Bestrafung von Geistlichen, die dem Konkordat zuwiderhandelten, entfernte die Priester aus den Spitälern und brachte Febr. und März 1884 in der Kammer das Gesetz zur Annahme, daß Ordensleute (Kongregationisten) an öffentlichen Schulen nicht mehr unterrichten dürften. Diese Maßnahmen führten zu einer Beschwerde des Papstes, auf die Grévy versöhnlich erwiderte, wodurch ein offener Konflikt vermieden wurde.
Weit mehr Schwierigkeiten verursachte dem Ministerium Ferry die finanzielle Lage des Staates. Die Einnahmen waren seit 1874 um 4 Milliarden hinter den Ausgaben zurückgeblieben, die Steuereingänge nahmen von Monat zu Monat ab, die gesamte Wirtschaft des Landes war im Rückgänge, die Ausfuhr heimischer Fabrikate wurde geringer, und die Einfuhr fremder stieg stetig, sodaß in den ersten 6 Monaten 1883 der Export gegen den Import um 729 Mill. Frs. zurückblieb. Anarchistenprozesse (des Fürsten Krapotkin, der Louise Michel) zeugten für die wirtschaftlichen Mißstände laut genug.
Das Deficit war bisher durch Anleihen, Schatzscheine, Vorschüsse der Bank u. dgl. mühsam gedeckt worden. Diese Mittel reichten fürder nicht mehr aus, und Ferry mußte an entscheidendere Maßregeln denken. Es ergaben sich zunächst zwei:
1) die Umwandlung der 5prozentigen Rente in eine 4½prozentige, wodurch man jährlich 35 Mill. ersparte, und wozu die beiden Kammern im April 1883 ihre Zustimmung gaben, und 2) der Verzicht auf die Verstaatlichung der Eisenbahnen, indem man den Ausbau der Linien, der bisher das außerordentliche Budget mit einigen Hundert Millionen jährlich belastet hatte, den Privatgesellschaften vertragsmäßig überließ. Die Kammer genehmigte das Gesetz und die franz. Finanzen waren wieder, wenigstens annähernd, ins Gleichgewicht [* 16] gebracht, ohne jedoch einer Anleihe vollständig entraten zu können.
Gleichzeitig dachte aber Ferry eine weitausgedehnte Kolonialpolitik durchzuführen, um den Export zu beleben. Man sprach von einem Sahara-Meer, von einer Eisenbahn an den Niger, von Massenkolonisationen. Dazu allerdings waren die Staatsmittel zu knapp. Aber diese Expansionspolitik führte Frankreich doch bis nach Madagaskar und Tongking, wo es Protektorate anstrebte. Der Erfolg der Expedition nach Madagaskar (s. d.) war gering. In dem Friedensschluß, der Dez. 1885 unter ital. Vermittelung zu stande kam, mußte Frankreich auf die Erwerbung Nordmadagaskars verzichten und behielt sich nur die Besetzung der an der Nordostspitze gelegenen Bucht Diego Suarez vor. Die Königin mußte 10 Mill. Frs. Kriegsentschädigung leisten, bis zu deren Bezahlung Frankreich den Hafen von Tamatave behielt.
Mehr Erfolg wies die Expedition nach Tongking (s. d.) auf. In Ostasien hatte Frankreich seit der Erwerbung von Saigon durch Napoleon III. (1862) bestimmte Interessen zu wahren. Häufige Reibungen blieben nicht aus, und als sich der Gouverneur von Cochinchina gegen die Überfälle von Seeräubern selbständig Genugthuung zu verschaffen suchte, kam es 1882 zu ernsten Feindseligkeiten zunächst mit Annam (s. d.), mit dem jedoch bald zu Huë ein Vertrag zu stande kam, der es in ähnliche Abhängigkeit von Frankreich brachte wie Tunis: die auswärtige Politik und die Zolleinnahmen gingen auf die franz. Regierung über, dem Kaiser der Annamiten blieb nur die innere Verwaltung und seine Civilliste Nun ging es gegen den Piratenstaat der «Schwarzflaggen», aber mit so empfindlichen Opfern und so wenig Erfolg, daß Ferry Unterhandlungen mit China anknüpfte, damit dieses seine Hilfstruppen, mit denen es die Schwarzflaggen unterstützte, zurückrufe.
Die Verhandlungen verliefen erfolglos, es kam zu einem förmlichen Kriege mit China, und erst als der franz. Konteradmiral Courbet die Außenwerke der Stadt Son-tai erstürmte und die Stadt besetzte, Bac-Ninh und 12. April Hung-hoa eroberte, brachten diese Erfolge zu Wege, daß sich China zu einem Abkommen bequemte. Am wurde in Tien-tsin ein Präliminarvertrag abgeschlossen, worin die Regierung zu Peking [* 17] alle Rechte aus Annam und Tongking aufgab. Bald darauf, kam auch ein neuer Vertrag mit Annam zu stande, der die auswärtige Politik dieses Reichs vollständig unter den Willen des franz. Residenten stellte. Trotz dieser Verträge stellte sich aber doch noch lange ¶