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wärtig in vielen Fällen materielle
Störungen nachweisen, wo dies früher unmöglich war, und da, wo sich bestimmte ursächliche
körperliche
Momente noch nicht auffinden lassen, sind solche unter Berücksichtigung der allgemeinen Erfahrungen über die
Lebenseigenschaften des
Nervensystems im normalen und krankhaften Zustande, über die körperlichen Begleiterscheinungen der
Geistesthätigkeit mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erschließen. Man nimmt so gegenwärtig ziemlich allgemein
an, daß jeder Geisteskra
nkheit ein anomaler Zustand,
bez. Thätigkeitsmodus des
Gehirns entspricht, in welch letzterm nach
den Aufschlüssen der Pathologie,
Physiologie und vergleichenden
Anatomie das Organ der Seelenthätigteiten zu suchen ist.
In der That finden sich in vielen, insbesondere chronischen Fällen von Geisteskra
nkheiten ausgebreitete,
teils schon mit bloßem
Auge
[* 2] sichtbare, teils durch das Mikroskop
[* 3] nachweisbare
Veränderungen der
Struktur des
Gehirns und seiner
Häute, insbesondere
Entzündungen, Schrumpfung u. s. w. im Bereich der Großhirnhalbkugeln, deren graue
Rindenschicht (Großhirnrinde) das
Substrat der höhern Geistesthätigkeiten darstellt, deren ausgedehnte Erkrankung, sofern
sie auf beiden Halbkugeln gleichzeitig sich findet, auch notwendig geistige
Störung im Gefolge hat.
Doch genügt offenbar schon eine hochgradige Überanstrengung
(Ermüdung) dieses Organs, z. B. durch heftige Gemütsbewegungen,
anhaltendes
Denken, um sie zu einer normalen Funktion auf längere oder kürzere Zeit unfähig zu machen; desgleichen eine
abnorme Mischung des zur
Ernährung dienenden
Blutes, abnorme Reize, die von andern Organen her (z. B.
Geschlechtswerkzeuge) auf das
Gehirn
[* 4] einwirken, weshalb man nicht bei allen Geisteskranken
sichtbare
Veränderungen des
Gehirns
antrifft.
Für den Nachweis des Bestehens von Geisteskra
nkheiten lassen sich allgemein gültige kurze Regeln nicht geben. Es
giebt kein einziges specifisches
Kennzeichen, an dem sich in allen fällen Geisteskra
nkheit erkennen läßt,
da alle Einzelerscheinungen normaler Geistesthätigkeit, die bei Irren beobachtet werden, für sich gelegentlich auch bei
Geistesgesunden vorkommen können. Nur auf
Grund einer den Zustand sämtlicher geistiger Funktionen, die gesamte geistige
und leibliche Persönlichkeit, die
Vorgeschichte derselben, die Familienanlage u. s. w. berücksichtigenden Untersuchung
ist in vielen Fällen mit Sicherheit eine Geisteskra
nkheit zu erkennen, und auch dies führt nicht immer
zum Ziel, da sich zwischen Geisteskra
nkheit und Gesundheit scharfe Grenzen
[* 5] nicht ziehen lassen (sog.
zweifelhafte Seelenzustände). Charakteristisch ist neben Gruppierung und Verlauf die selbständige, äußerlich nicht begründete
Entstehung und die periodische Wiederkehr der Erscheinungen, die erfahrungsgemäß Geisteskra
nkheiten zusammensetzen.
Eine umfassende rationelle
Einteilung der Geisteskra
nkheiten läßt sich gegenwärtig nicht geben, weshalb die
Psychiatrie
vorläufig einer allgemein gebräuchlichen
Terminologie noch entbehrt. Von alters her
(Hippokrates) unterscheidet man mit Rücksicht
auf die Einzelerscheinungen verschiedene
Arten von Geisteskra
nkheiten (sog. psychologische Formen), die auch in der modernen
Terminologie ihren Platz behaupten, obwohl die
Anschauungen über das Wesen der bezeichneten Zustände
sich völlig geändert hat. Es sind dies: Melancholie,
Hypochondrie,
Manie,
Paranoia (Verrücktheit),
Blödsinn;
Wahnsinn ist ein
Kollektivbegriff, wenn schon einzelne damit bald diese, bald jene
Form von Geisteskra
nkheit bezeichnen.
Jetzt sind noch dazugekommen: Folie raisonnante (Handlungs-Irresein ohne Wahnideen), das impulsive Irresein, das moralische Irresein (Gemütswahnsinn, Moral insanity, s. d.), die psychischen Dämmerzustände u. s. w. Zweifellos handelt es sich bei diesen verschiedenen Krankheitsbildern um besondere Störungsformen der geistigen Thätigkeiten, insofern bei den einen mehr Anomalien der Sphäre des Gemüts, bei andern mehr des Verstandes, bei dritten mehr des Strebens (Willens) in das Auge fallen.
Doch ist es ungerechtfertigt, daraufhin überhaupt die Geisteskrankheiten einteilen zu wollen nach den «Seelenvermögen», die sich besonders ergriffen zeigen, wie dies noch bis vor kurzem und zum Teil von namhaften Irrenärzten gethan worden ist. Denn einmal hat sich überhaupt die Annahme dreier gesonderter «Seelenvermögen» als unhaltbar erwiesen, und dann ist die Annahme, daß diese Seelenvermögen isoliert «erkranken» können (in Form sog. «Monomanien») erfahrungsgemäß durchaus unhaltbar. Es beruht in der That auch nur auf einer irrtümlichen Auffassung, wenn man dem Begründer der Lehre [* 6] von den «Monomanien», Esquirol, eine derartige Anschauung zuschreibt, die thatsächlich erst von seinen Nachfolgern ausgebildet worden ist. In Wirklichkeit leiden bei allen alle Seiten geistiger Thätigkeit; nur erscheint bald einmal die gemütliche Sphäre, bald die Verstandesthätigkeit, bald das Streben (Wollen) als der Ausgangspunkt der geistigen Erkrankung. In diesem Sinne ist es gerechtfertigt, die alte Einteilung der Geisteskrankheiten im weitern Sinne in Gemütskrankheiten, und Geistes- (Verstandes-) Krankheiten im engern Sinne beizubehalten.
Zu den Gemütskrankheiten gehören insbesondere die Melancholie und Manie. Erstere besteht im wesentlichen in grundloser trauriger, bez. ängstlicher (depressiver) Verstimmung mit konsekutiver Verlangsamung des Vorstellungsverlaufs, Willensschwäche, und in den höhern Graden mit Wahnvorstellungen traurigen Inhalts, Versündigungsideen, Erwartung harter Strafe, eventuell mit entsprechenden Sinnestäuschungen, während die Manie gerade das gegenteilige Bild darstellt: meist exaltierte, gehobene (zornige, oder freudige, oder wechselnde) Stimmung, raschen Ideenfluß, gesteigertes Triebleben, gelegentliche Überschätzungsideen und ab und zu Sinnestäuschungen.
Höhere intellektuelle Operationen sind gestört bei der Verrücktheit, worunter die Psychologie nicht, wie die Laien, jede Art Geisteskrankheit versteht, sondern nur bestimmte Formen. Hier tritt besonders die Bildung von Wahnideen in den Vordergrund, die, meist auf Grund von Hallucinationen entstehend, jedem logischen Einwand gegenüber festgehalten und vielfach untereinander zu einem Wahnsystem verknüpft werden (sog. fixe Ideen). Unterarten der Verrücktheit sind: der Verfolgungswahn, die Erotomanie, der Querulantenwahnsinn u. s. w. Hierbei kommt es besonders häufig zu einer völlig falschen Auffassung der eigenen Person, ihres Verhältnisses zur Mitwelt u. s. w. (frz. aliénation, Irresein, aliéné, der Irre). Ein Krankheitsbild, wobei besonders das Streben (Wollen) gestört erscheint, stellt das sog. impulsive Irresein dar. Hier begehen die Kranken (meist Epileptiker) komplizierte Handlungen (Mord, Brandstiftung), ohne sich eines Motivs klar zu werden, ohne heftigen Affekt, lediglich zufolge eines unwiderstehlichen Triebes. Doch leidet hier bei näherer ¶
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Betrachtung nicht ausschließlich die Willenssphäre, da im Moment des Handelns, wie es scheint, stets die Intelligenz, die Klarheit des Bewußseins u. s. w. gestört sind und die Angabe der Kranken, daß sie sich der Strafbarkeit und Unnatürlichkeit des Triebes bewußt gewesen, sich auf die Zeit außerhalb des eigentlichen Handelns bezieht. Sämtliche geistige Funktionen sind gestört im Blödsinn, wo nicht nur Gedächtnis und Denkthätigkeit, sondern auch die gemütlichen und Willensregungen abgeschwächt sind, bez. in den schwersten Fällen scheinbar völlig fehlen.
Indem man früher annahm, daß die Verrücktheit und der Blödsinn, überhaupt aber die mit geistiger Schwäche einhergehenden Krankheitsbilder sich stets im Anschluß, bez. als Ausgänge von Gemütskrankheiten bildeten, bezeichnet man jene auch als sekundäre Störungen,Sekundärformen geistiger Krankheit, letztere als primäre Störungen, Primärformen. Indes ist diese Einteilung nur mit wesentlichen Modifikationen haltbar, insofern als die Verrücktheit (im modernen Sinne) in der Regel, der Blödsinn nicht gar selten ohne jede vorausgehende Gemütskrankheit, also primär auftreten (primäre Verrücktheit u. s. w.). Wenn Melancholie und Manie nicht in Heilung übergehen, so entstehen allerdings Zustände, die bei oberflächlicher Betrachtung der Verrücktheit ähneln (Wahnideen, defektes Bewußtsein der eigenen Person u. s. w.). Doch unterscheidet sich diese sekundäre Verrücktheit (auch Verwirrtheit genannt, von manchen auch Wahnsinn) wesentlich von der Verrücktheit (im modernen Sinne), da für letztere der systematische Zusammenhang der Wahnideen, für jene das zusammenhangslose derselben charakteristisch ist.
Überdies findet sich bei «sekundär Verrückten» meist eine hochgradige gemütliche Indifferenz und Gedächtnisschwäche, sodaß der Inhalt der Wahnideen sie meist gleichgültig läßt, während gerade umgekehrt die primär Verrückten, die vielfach noch ein scharfes Gedächtnis besitzen, im Anschluß an ihre Wahnideen häufig in Affekt geraten und dadurch zu den für ihre Umgebung gefährlichsten Kranken gehören. Es ist nach dem Angeführten auch die Ansicht unhaltbar, daß Melancholie, Manie, Verrücktheit, Blödsinn allenthalben nur verschiedene Stadien ein und derselben Krankheit, der «Geisteskrankheit», darstellen.
Allerdings treten vielfach bei demselben Kranken nacheinander (ja auch gleichzeitig) verschiedene Störungsformen auf, z. B. bei dem cirkulären Irresein Melancholie und Manie in regelmäßigem Rhythmus; der Blödsinn ferner ist der Ausgang der meisten unheilbaren Geisteskrankheiten. Doch giebt es offenbar eine große Anzahl ihrer Natur (den körperlichen Grundlagen) nach verschiedene Arten von Geisteskrankheiten, deren Abgrenzung allerdings bisher nur sehr unvollkommen gelungen ist. So stellt allem Anschein nach der mit allgemeiner fortschreitender Lähmung der willkürlichen Muskeln [* 8] einhergehende progressive Schwachsinn oder Blödsinn (Progressive Paralyse der Irren, fälschlich Größenwahn genannt) eine specifische Hirnerkrankung dar, desgleichen das Irresein der Epileptiker u. s. w.
Der Versuch, die Geisteskrankheiten einzuteilen mit Rücksicht auf die ursächlichen Momente, der insbesondere von Morel (s. d.) unternommen wurde, ist nicht durchführbar, da durch die nämliche Schädlichkeit (z. B. Alkoholmißbrauch) die verschiedenartigsten Formen von Geistesstörung entstehen können, dieselbe Form durch die verschiedensten Ursachen. Zudem ist die Entstehung von Geisteskrankheiten äußerst selten auf ein einzelnes Moment, meist auf das Zusammentreffen mehrerer zurückzuführen.
Man unterscheidet im allgemeinen zwei große Kategorien von Ursachen: die prädisponierenden und die Gelegenheitsursachen. Die erstern sind wieder teils allgemein, teils individuell wirksame. Im allgemeinen hat man insbesondere dem Alter, dem Geschlecht und der fortschreitenden Civilisation gewisse Einflüsse auf die Entstehung von Geisteskrankheiten zugeschrieben. Das Alter spielt insofern eine Rolle, als sich eigentliche Geisteskrankheiten (abgesehen von Idiotie) selten finden vor der Pubertät. Am häufigsten sind sie im kräftigen (Mannes-) Alter, bei Männern insbesondere zwischen 25 bis 40 Jahren.
Manche Krankheitsformen treten besonders in der Pubertätsperiode auf; bei den Frauen sind auch die klimakterischen Jahre besonders ergiebig. Inwiefern das Geschlecht, desgleichen der Civilstand (Ehe, lediger Stand u. s. w.) als solche eine bestimmte Rolle spielen, läßt sich auf Grund der vorliegenden Statistik nicht mit Sicherheit angeben. Die ziemlich allgemein verbreitete Annahme, daß die neuere Civilisation das Entstehen von Geisteskrankheiten begünstige, ist streng wissenschaftlich nicht zu erweisen.
Denn die Statistik früherer Zeiten ist höchst unvollkommen, und auch gegenwärtig läßt sich die Statistik verschiedener Länder, ja auch nur Provinzen, nicht vergleichen. Da man jetzt genauer zählt als früher, so beweist das Wachstum der statist. Zahlen nicht eine Zunahme der Zahl der Geisteskranken. Nur die Zahl der in Irrenanstalten verpflegten Kranken hat sicher zugenommen, was einmal auf die Vermehrung dieser Anstalten und dann auf die bessern hygieinischen Einrichtungen derselben, wodurch die Lebensdauer der Irren verlängert wird, zurückzuführen ist. Angesichts dieser Verhältnisse ist es auch ungerechtfertigt, diesen oder jenen Faktor der modernen Civilisation für die Zunahme der Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. In mancher Beziehung bietet die Neuzeit mehr Anlaß zu Gemütserregungen (z. B. der härtere, eine größere geistige Leistungsfähigkeit erfordernde Kampf ums Dasein in den großen Städten), in anderer (z. B. religiöse Fragen) weniger.
Das wichtigste individuell prädisponierende Moment bildet die sog. neuro-(psycho-)pathische Konstitution, d. h. eine ihrer Natur nach meist nicht definierbare, abnorme Beschaffenheit des Nervensystems, die es mit sich bringt, daß selbst auf an sich geringfügige Schädlichkeiten Geisteskrankheit ausbricht. Diese Konstitution ist meist ererbt, d. h. findet sich bei zahlreichen Gliedern derselben Familie und ist so eine Eigentümlichkeit gewisser Familien.
Demgemäß erwachsen Geisteskrankheiten zu einem großen Prozentsatz auf Grund erblicher oder angeborener Anlage (hereditäre Belastung), zum mindesten etwa 30 Proz. In manchen Familien nehmen die Geistes- (bez. Nerven-) Krankheiten von Generation zu Generation schwerere, schließlich mit Verkrüppelung des Körpers (körperliche Degenerationszeichen) einhergehende Formen an (Morels Degenerationsgesetz), in andern Familien kehrt ein- und dieselbe Geistesstörung durch viele Generationen in derselben Form wieder (besonders Selbstmordtrieb), in einer dritten Reihe von Familien erlischt die krankhafte Anlage, um einem normalen Verhalten Platz zu machen. Letzteres ist wohl besonders der Fall bei Vermischung «belasteter» Familien mit gesunden, während ¶