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Die Reformversuche der ersten Regierungsjahre Alexanders I. erzeugten ein reges polit. und nationalökonomisches Interesse im Publikum. Die Presse [* 2] brachte polit. und nationalökonomische Artikel. Die Aufhebung der Leibeigenschaft wurde erörtert. Die Anhänger dieser liberalen Richtung, größtenteils mit der Occupationsarmee heimgekehrte Offiziere, bildeten allerdings die Minderheit. In den letzten Regierungsjahren Alexanders sammelten sich die mit der Tyrannei des allmächtigen Ministers Araktschejew unzufriedenen liberalen Elemente zu verschiedenen Geheimbünden. Poetisch kam der Protest zum Ausdruck in den Gedichten K. Ryljejews (1745-1826). Das Freimaurerwesen kam wieder auf. Als Reaktion gegen den Materialismus des 18. Jahrh. erschien der Mysticismus, besonders in den hohen Gesellschaftskreisen.
In der Litteratur herrschte trotz aller Kämpfe gegen die Gallomanie der alte franz. Einfluß. In der Poesie war die Ode immer noch lebendig (Mersljakow [1778-1830], aber auch einzelne Dichtungen der neuen Schule [Dmitrijews, Shukowskijs u. s. w.] zeigen deren Stil). Im Roman herrschte der Geschmack an möglichst verwickelten Abenteuern (W. Narjeshnyj, 1780-1825). Daneben waren die morgenländ. Erzählungen Alex. Benizkijs (1781-1809) und endlich die Erzählungen im sentimentalen Geschmack beliebt.
Das Drama entwickelte sich unter besonders günstigen Umständen. Neben talentvollen Dichtern traten ausgezeichnete Schauspieler auf. Es entstanden Provinzialbühnen und Privattheater. Der 1808 gegründete «Dramat. Bote» wirkte geschmackverbessernd. Die gesellschaftliche Stellung der Schauspieler wurde besser. Im Drama herrschten nebeneinander bürgerliches Drama und die heroische Tragödie. Besonders beliebt war Kotzebue und seine russ. Schule. Als neue Gattung trat das Melodrama hinzu.
Der Hauptvertreter der klassischen Richtung war Oserow (1770-1816). Im Lustspiel beherrschte der Fürst A. Schachowskoj (1777-1846) die Bühne; daneben wurden viele franz. Stücke übersetzt. Die Fabel erlangte durch Iwan Krylow (1768-1844) ihre höchste Vollendung. Die Satire richtete sich teils gegen die Unnatur in der Poesie (Fürst I. M. ^[Iwan Michailowitsch] Dolgorukij, 1764-1823, Fürst P. A. Wjasemskij, 1792-1878), teils gegen gesellschaftliche und administrative Schäden (Fürst D. P. Gortschakow, 1756-1824).
Einen neuen Inhalt erhielt die russ. Poesie durch die Romantik. Als Einführer derselben gilt Wassilij Shukowskij (1783-1852). Sein Verdienst besteht darin, daß er durch musterhafte Übersetzungen die Meisterwerke der engl. und deutschen Litteratur in Rußland einbürgerte. Die einseitige Nachahmung der Franzosen hörte dadurch auf. Für die russ. Poetik waren seine Gedichte von größtem Wert: sie lieferten Muster, z. B. für alle Gattungen der Lyrik. Neben Shukowskij sind als Romantiker zu erwähnen: Konst. Batjuschkow (1787-1855) und Iwan Koslow (1779-1840). Endlich wirkte dem Pseudoklassicismus entgegen die Bekanntschaft mit der Antike, die den Russen durch die Übersetzungen Nik. Gnjeditschs (1748-1833), Shukowskijs u. a. vermittelt wurde.
In der wissenschaftlichen Litteratur war Karamsins «Geschichte Rußlands» die reifste Frucht der Fortschritte auf histor. und kulturhistor. Gebiet und wurde für die nächsten Jahrzehnte ein Muster der Methode und eine Fundgrube an Material. Der Mäcen der Forschung war Graf N. Rumjanzew, der Handschriften sammeln und abschreiben ließ, prachtvolle Ausgaben veranstaltete, seine reiche Bibliothek zur Verfügung stellte u. s. w. In der Slawistik begann A. Wostokow seine epochemachende Thätigkeit. Für die Volkskunde ist wichtig die u. d. T. «Alte russ. Dichtungen» herausgegebene Heldenliedersammlung.
Eine neue Periode der [* 3] Russische Litteratur beginnt mit Alexander Puschkin. Puschkin trat als Dichter auf, als der Pseudoklassicismus in den letzten Zügen lag; seine ersten Gedichte sind Nachahmungen der leichtern franz. Erotik. Darauf hatten eine Zeit lang Byron und die Romantiker, später Shakespeare Einfluß auf ihn, ohne daß er sich einem dieser Einflüsse nachhaltig unterwarf. In Puschkins Dichtungen erreicht die russ. Poesie ihren vielseitigsten, nationalsten und formvollendetsten Ausdruck. Er ist der erste russ. Dichter, der das fremden Litteraturen Entlehnte nicht, wie seine Vorgänger, einfach wiedergab, sondern in russ. Geist durcharbeitete. Insofern wirkte er bahnbrechend und ward der Lehrer und das Vorbild für die moderne russ. Dichtung. Puschkins unmittelbare Nachfolger und Schüler fallen sehr gegen ihn ab, z. B. Dmitrij Wenewitinow (1805-27), Alex. Poleshajew (1810-38), Nik. Jasykow (1803-46), Eug. Baratynskij (1800-44) und Anton Delwig (1798-1831). - Die damaligen Censurverhältnisse, die jede freie Meinungsäußerung hinderten, hatten das Entstehen einer umfangreichen, handschriftlich verbreiteten Geheimlitteratur zur Folge. Zu dieser gehörte auch das berühmte Schauspiel «Wehe dem Gescheiten» («Gore ot uma», 1822-23) von Alexander Gribojedow (1794-1829), eine bittere Satire auf die höhere Moskauer Gesellschaft der zwanziger Jahre.
Die arge Reaktion, die mit dem Regierungsantritt des Kaisers Nikolaus (1825) begann, die Unterdrückung jeder freien geistigen Regung rief in der Gesellschaft eine Unzufriedenheit und einen Protest hervor, der auch in der Litteratur zu Tage trat: Byron fand begeisterte Anhänger und Nachahmer. Der bedeutendste der russ. Byronianer ist zugleich der größte russ. Dichter nach Puschkin, Mich. Lermontow. Lermontow starb mitten in seiner poet. Entwicklung; doch genügt das, was er geschaffen hat, um ihn unter die großen Dichter zu stellen. Der Held seines Hauptwerkes «Der Held unserer Zeit» wurde zu einer beliebten, im Roman der vierziger und fünfziger Jahre oft nachgeahmten [* 1] Figur. Eine ganz alleinstehende bedeutende Dichtergestalt dieser Zeit ist der aus dem Volk stammende, früh verstorbene Alexej Kolzow, der erste Lyriker, dem es gelang, dem Volkslied, bei treuer Wahrung von Form und Charakter, hohe künstlerische Vollendung zu geben.
In die dreißiger Jahre fallen die ersten entscheidenden Anfänge einer die Romantik ablösenden Richtung, der Realismus oder Naturalismus. Die Keime dazu waren schon vorhanden, aber erst Nikolaj Gogol sollte durch seine naturalistischen Schilderungen des kleinen Mittelstandes und des subalternen Beamtentums der auf ihn folgenden Schriftstellergeneration die definitive Richtung geben. An der Moskauer Universität hatten sich Anfang der dreißiger Jahre ein paar Studentenvereinigungen gebildet, die für das spätere geistige Leben Rußlands von Bedeutung wurden. Der eine sich um N. Stankewitsch gruppierende Kreis [* 4] ¶
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beschäftigte sich eifrig mit deutscher Philosophie (besonders Hegel), deutscher Dichtung und Kunst; zwei seiner Mitglieder, K. Aksakow und A. Chomjakow, trennten sich bald von ihm los und bildeten mit den Brüdern I. ^[Iwan] und P. Kirjejewskij einen eigenen Kreis, den der Slawophilen. Dem Stankewitschschen Kreise [* 6] entgegengesetzt war der Al. Herzensche, der Geschichte, Politik und vor allem die Werke der franz. Socialisten studierte. In den vierziger Jahren bildeten sich aus diesen Kreisen zwei getrennte Lager: [* 7] die Anhänger des Westens (Zapadniki) und die Slawophilen. - Aus dem Kreise Stankewitschs ging hervor der geniale Wissarion Bjelinski, dessen Thätigkeit für die Entwicklung der russ. Kritik und des Litteraturstudiums epochemachend wirkte. Er war es unter anderm, der zuerst Gogols Bedeutung richtig würdigte, und der der neuen realistischen sog. «natürlichen» Schule die Wege bahnte.
Diese neue Schule trat zuerst in den vierziger Jahren auf. Ein glückliches Geschick ließ fast gleichzeitig eine Reihe Belletristen ersten Ranges erstehen, die in der Folge dem russ. Roman eine hervorragende Stellung in der Weltlitteratur verschafften A. Herzen (unter anderm «Wer ist schuld?», 1845),
I. Turgenew (die ersten Skizzen aus dem «Tagebuch eines Jägers»),
I. Gontscharow («Die gewöhnliche Geschichte», 1847),
F. Dostojewskij («Arme Leute», 1846),
etwas später L. Tolstoj («Kindheit», «Knabenalter» u. a.),
zu denen mehrere weniger bedeutende, aber doch achtungswerte Talente traten, wie S. Aksakow (Fragmente aus der «Familienchronik», 1846),
D. Grigorowitsch («Das Dorf», 1846, «Anton der Unglücksrabe»),
A. Pissemskij, M. Sologub («Der Tarantas»),
Al. Drushinin («Polinka Sachs», 1847) u. a., von Frauen N. Chwoschtschinskaja (W. Krestowskij-Pseudonym), N. Sochanskaja (Kochanowskaja). Alle diese Novellisten der vierziger Jahre zeichnen sich mehr oder weniger aus durch künstlerischen Realismus, scharfe Beobachtung des Lebens, Sympathie für die untern Volksklassen. In ihrer ruhigen Entwicklung sollte die Schule aber bald gestört werden.
Die sociale Gärung Mitte der vierziger Jahre, der Widerhall der revolutionären Bewegung des Westens in Rußland hatten eine noch ärgere Bedrückung der Geister durch die Regierung zur Folge. Die Entdeckung der sog. Petraschewskijschen Verschwörung brachte mehrern bedeutenden Schriftstellern, darunter Dostojewskij, Verbannung nach Sibirien. Der offizielle Patriotismus, der der Aufregung der Gemüter als Blitzableiter dienen sollte, führte schließlich zum Krimkrieg (1853-56), dessen trauriges Ergebnis die Mißstände in der Regierung und Verwaltung und die Notwendigkeit von Reformen klarlegte. Es begann eine Periode der Selbsterkenntnis und Bloßlegung der Schäden in der Gesellschaft und der Litteratur.
Die Freigebung der Presse hatte ein plötzliches Zunehmen der periodischen Blätter und eine vorher nicht dagewesene Kühnheit der Sprache [* 8] derselben zur Folge. Als Muster diente ihnen Alexander Herzens im Ausland herausgegebene «Glocke». Das bedeutendste Petersburger Blatt [* 9] radikaler Tendenz war Tschernyschewskijs «Zeitgenosse» und das dazugehörende Witzblatt «Die Pfeife», das ebenso wie die litterar. Kritik des «Zeitgenossen» in den Händen Nikolaj Dobroljubows lag.
Dieser radikale Ton dauerte bis zum Anfang der sechziger Jahre. Das erste Auftreten des Nihilismus, für den man Herzen und seine Anhänger verantwortlich machte (Katkow in der «Moskauer Zeitung»),
bewirkte eine Einschränkung der Presse, Aufhebung einiger Blätter, verschärfte Censur. Tschernyschewskij wurde nach Sibirien geschickt. In der Regierung trat ein reaktionärer Umschwung ein. Zum Stimmführer der Reaktion wurde die früher liberale «Moskauer Zeitung» unter Mich. Katkow.
In der nachgogolschen schönen Litteratur nimmt, weit mehr als in den westeurop. Litteraturen, eine bedeutende Stelle ein die Schilderung des Volkslebens. In den vierziger Jahren tritt, wie z. B. in Turgenews Skizzen aus dem «Tagebuch eines Jägers», in Dostojewskijs «Armen Leuten» u. s. w. das Bestreben hervor, die sympathischen Seiten des Bauers, des kleinen Beamten hervorzuheben. Bei weniger bedeutenden Schriftstellern, wie Gregorowitsch und später Marko Wowtschok, zeigt sich oberflächliche Kenntnis des Volks, idealisierende sentimentale Auffassung.
In den fünfziger Jahren diente der Bauer als komische [* 5] Figur (N. Uspenskij, W. Sljepzow). Nähere Bekanntschaft mit dem Volksleben vermitteln in den fünfziger und sechziger Jahren die Resultate der offiziellen Expeditionen und die Beobachtungen einzelner Beamten in der Provinz, wie z. B. die Schilderungen der sibir. Sträflinge S. Maksimows, der neuruss. Leibeigenen G. Danilewskijs, der Dissidenten Melnikows (Petscherskij), die Studien des originellen Folkloristen P. Jakuschkins u. s. w. Allmählich aber ging, wie überhaupt die Litteratur, so auch dies Gebiet, immer mehr in die Hände von Leuten aus dem Volke selbst über.
Ende der fünfziger Jahre erschien eine Menge von Dichtungen, die zwar formell denen der vierziger Jahre nachstehen, sie aber in ungeschminkter Darstellung der Volkskreise übertreffen. Zunächst in den sechziger Jahren überwiegt die Schilderung des Volks in seiner socialen und ökonomischen Schutz- und Rechtlosigkeit den andern Klassen gegenüber, z. B. in F. Reschetnikows «Podlipowzer», A. Lewitows «Steppenskizzen» und seine Schilderungen des Moskauer und Petersburger Proletariats, N. Naumows Beschreibungen sibir. Bauernlebens u. s. w. Seit den siebziger Jahren endlich beginnt das vertieftere Studium des eigentlichen Wesens und der Grundlagen des Volkslebens, so besonders in den Schriften Gljeb Uspenskijs (z. B. «Sitten der Rastarjajewstraße», «Menschen und Sitten des gegenwärtigen Dorfs») und Nik. Slatowratskijs (z. B. «Die Pfeiler, Geschichte eines Dorfs»).
Die sanguinischen Hoffnungen und die Begeisterung für öffentliche Fragen in der dem Regierungsantritt Alexanders II. folgenden Reformenperiode erzeugten einen besondern Zweig der Novellistik, die tendenziöse «Anklagelitteratur», deren bedeutendster Vertreter, M. Saltykow (N. Schtschedrin),
durch seine «Gouvernementsskizzen» (1856) mit einem Schlag zu einem der populärsten Schriftsteller wurde und seitdem während seiner fruchtbaren Thätigkeit die Wandlungen der russ. Zustände und der Gesellschaft in allgemeinen, schonungslos satir. Typen widergespiegelt hat. Der jung verstorbene Nik. Pomjalowskij gab in seinen «Skizzen aus der Bursa» ein erschreckendes Bild von den Zuständen des Petersburger geistlichen Seminars und schuf in den Romanen «Bürgerliches Glück» und «Molotow» den neuen Typus des emporstrebenden Mannes aus dem Volk in seinen guten und abstoßenden Eigenschaften. Schablonenhafte Gegenüberstellungen der ¶