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Finanzminister Abasa ihre Entlassung ein, und Graf Ignatjew wurde zum Minister des Innern ernannt. Der einflußreichste Minister wurde der Oberprokureur des Heiligen Synod Pobjedonoßzew (s. d.). Das nihilistische Exekutivkomitee erließ als Antwort auf das Manifest eine Erklärung, die dem Kaiser mit dem Schicksal seines Vaters drohte. Infolgedessen mußten die größten Vorsichtsmaßregeln getroffen werden, und der Kaiser wechselte mehrmals rasch seinen Wohnsitz, residierte bald in Gatschina, bald in Peterhof, von Polizei und Militär bewacht.
Die Kaiserkrönung fand erst in Moskau [* 2] statt, und am Tage derselben erließ der Kaiser ein Manifest, worin einige Gnadenakte verkündigt und alles Heil des Reichs von der mit göttlicher Weisheit und Stärke [* 3] begnadigten unumschränkten Machtvollkommenheit des Kaisers abhängig gemacht wurde. In einem 1885 an den Senat gerichteten kaiserl. Ukas wurde die bisherige kaiserl. Hausordnung dahin abgeändert, daß nur die Söhne, Töchter, Brüder, Schwestern und die in unmittelbarer Linie vom Mannsstamm abstammenden Enkel des Kaisers den Titel «Großfürsten» und «Großfürstinnen» führen dürfen, daß aber die vom Mannsstamm herkommenden Urenkel des Kaisers als «Fürsten und Fürstinnen von kaiserl. Geblüt» anzusehen sind.
Die Beziehungen R.s zu den auswärtigen Mächten, namentlich zu Deutschland [* 4] und Österreich, [* 5] waren unter der Regierung Alexanders III. anfangs durchaus nicht freundlich, und Rußland nahm eine isolierte Stellung ein. Die Nachbarmächte konnten wenig Vertrauen zu einer Regierung fassen, von welcher zwei Mitglieder, Fürst Gortschakow und Graf Ignatjew, ihre entschiedenen Feinde waren, zu einer Regierung, welche an der Westgrenze des Reichs starke Truppenmassen versammelt und wie zu einem raschen Überfall bereit hielt.
Daher führte die Zusammenkunft, welche Kaiser Alexander mit Kaiser Wilhelm in Danzig [* 6] veranstaltete und welcher auch Fürst Bismarck und Geheimrat von Giers, der Stellvertreter Gortschakows, beiwohnten, zunächst keine Veränderung der gegenseitigen Beziehungen herbei. Erst als der 84jährige Gortschakow von der Leitung des Ministeriums des Auswärtigen entbunden, dieses dem Geheimrat von Giers übertragen, Graf Ignatjew seines Postens als Minister des Innern enthoben wurde und Graf Tolstoj an seine Stelle trat, konnte man von einem Siege der russ. Friedenspartei sprechen.
Der neue Minister von Giers gab sich alle Mühe, durch persönliche Besprechungen mit dem Fürsten Bismarck, den er wiederholt besuchte, und mit den leitenden Persönlichkeiten in Wien [* 7] ein gutes Einvernehmen zwischen Rußland und Deutschland-Österreich herzustellen. Kaiser Alexander III. selbst kam bald zu der Einsicht, daß die Sicherheit seiner Dynastie und seines Reichs hauptsächlich auf einem guten Verhältnis mit Deutschland beruhe. Diese Wendung der russ. Politik fand ihren offiziellen Ausdruck in der Zusammenkunft, welche 15. bis zwischen den Kaisern von Deutschland, Österreich und Rußland in dem poln. Lustschlößchen Skernewizy (Skierniewice) stattfand, und welcher auch die leitenden Minister, Fürst Bismarck, Graf Kalnoky und Herr von Giers, beiwohnten. Die Annäherung R.s an die zwei großen Friedensmächte that sich sofort in allen europ. Fragen kund. Dieses freundschaftliche Verhältnis erhielt eine Verstärkung [* 8] durch den Besuch, welchen Kaiser Alexander im Aug. 1885 dem Kaiser Franz Josef in Kremsier abstattete.
Die guten Beziehungen R.s zu Deutschland und Österreich waren aber nur von kurzer Dauer; bald trat an ihre Stelle ein recht gespanntes Verhältnis infolge des Auftauchens der bulgar.-ostrumel. Frage. Da Rußland sich in seiner Hoffnung, daß Bulgarien [* 9] sich freiwillig einer russ. Oberlehnsherrlichkeit unterwerfen werde, getäuscht sah, so suchte es fortan jede innere und äußere Erstarkung Bulgariens zu hemmen. Alexander III. versagte daher der Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien durch den Staatsstreich vom seine Zustimmung und gab seiner Abneigung gegen den bulgar. Fürsten Alexander offenen Ausdruck, indem er ihn aus der russ. Armeeliste streichen ließ.
In der Note vom protestierte Rußland gegen den türk.-bulgar. Vertrag vom 2. Febr. und setzte es in der Botschafterkonferenz zu Konstantinopel [* 10] durch, daß das Generalgouvernement von Ostrumelien dem Fürsten von Bulgarien nur auf fünf Jahre übertragen wurde. Nach der Abdankung desselben sandte der russ. Kaiser den General Kaulbars nach Bulgarien, welcher als diplomat. Vertreter R.s in völkerrechtwidriger Weise gegen die neue von Rußland nicht anerkannte bulgar. Regierung agitierte. Er ließ in seinen drohenden Äußerungen wiederholt die Möglichkeit einer Besetzung Bulgariens durch russ. Truppen durchblicken. Durch die entschiedenen Erklärungen Österreich-Ungarns, Englands und Italiens [* 11] von der Ausführung eines solchen Planes abgeschreckt, griff Rußland dort zwar nicht mehr direkt ein, suchte aber durch Begünstigung aller oppositionellen Bewegungen eine Befestigung der innern Verhältnisse des Landes zu hindern. (S. Bulgarien.)
Der Grund für diese mehr beobachtende Haltung R.s lag in der zu Ende 1886 entstandenen Spannung zwischen Frankreich und Deutschland, die durch Boulangers Treiben in einen Krieg auszubrechen drohte. Rußland wollte sich in der Erkenntnis, daß ein europ. Krieg auch über die Balkanhalbinsel [* 12] entscheiden müsse, für einen solchen Fall nicht durch eine heraufbeschworene orient. Verwicklung an seinem freien Eingreifen in die allgemeinen europ. Verhältnisse behindert sehen.
In den der Regierung nahe stehenden Blättern wurde diese «Politik der freien Hand», [* 13] zugleich aber auch die Absicht R.s, eine völlige Besiegung Frankreichs durch Deutschland nicht zu dulden, verkündigt. Daß die russ. Regierung von dieser deutschfeindlichen Stimmung nicht frei war, zeigte der Ukas vom 24. Mai, der nicht nur allen Ausländern die Erwerbung und Benutzung unbeweglichen Eigentums in den westl. Grenzgouvernements untersagte, sondern ihnen auch verbot, in Polen außerhalb der Städte als Verwalter von Gütern oder Fabriken zu fungieren, und ein weiterer Ukas, der die sofortige Entlassung der zahlreichen im staatlichen Forstwesen in Polen angestellten Ausländer verfügte.
Durch beide Maßregeln wurden hauptsächlich deutsche und österr. Staatsangehörige getroffen. Gleichzeitig bewies Rußland durch seine Annäherung an Frankreich, sowie durch seine bedrohlichen Truppenanhäufungen an der deutschen und der österr. Grenze, daß es sich auf einen europ. Krieg vorbereitete. Das zwang die Mächte des Dreibundes zu Gegenrüstungen. Für kurze Zeit wurden die Blicke R.s vom Westen nach Bulgarien abgelenkt, als dort die Große Sobranije den Prinzen Ferdinand von Coburg [* 14] zum Fürsten wählte. Rußland beschränkte sich nach einem vergeblichen Versuch, die Pforte zum Einschreiten ¶
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gegen diese Wahl zu bewegen, auf die unbedingte Verneinung des bestehenden Zustandes in Bulgarien. Am fuhr Alexander III. mit seiner ganzen Familie nach Kopenhagen. [* 16] Hier wurden dem Zaren Aktenstücke vorgelegt, die ihm beweisen sollten, daß Fürst Bismarck im Widerspruch zu seinen offiziellen Erklärungen insgeheim eine russenfeindliche Politik in Bulgarien treibe. Als jedoch Fürst Bismarck den Zaren, der sich 18. Nov. auf der Durchreise nach Petersburg [* 17] einige Stunden in Berlin [* 18] aufhielt, in einer Audienz nachgewiesen hatte, daß jene Aktenstücke gefälscht seien, war wenigstens ein erträgliches Verhältnis zwischen Rußland und Deutschland wiederhergestellt.
Gleichwohl schob Alexander III. die Erwiderung des Besuchs, den ihm Kaiser Wilhelm II. bald nach seinem Regierungsantritt in den Tagen des 19. bis in Petersburg gemacht hatte, bis zum Okt. 1889 hinaus. Der an diesem Tage erfolgte Gegenbesuch bewirkte jedoch keine Änderung in der polit. Stellung R.s. Die glänzende Aufnahme des Kaisers Wilhelm durch den Sultan bei seinem Besuche in Konstantinopel (2. bis die hieraus erfolgte Stärkung des Selbstgefühls der Türkei [* 19] auch Rußland gegenüber und das intimere Verhältnis, in das die Pforte, ohne daß polit. Abmachungen getroffen wären, zu der Politik der Dreibundmächte trat, wurden von Rußland als eine Niederlage empfunden. Da auch England, ohnehin R.s Rival in Asien, [* 20] sich immer entschiedener dem Dreibunde annäherte, so blieb Rußland als einziger Verbündeter im Kriegsfalle Frankreich übrig.
Rußland setzte daher die niemals unterbrochenen Rüstungen [* 21] mit Eifer fort. schon zu Anfang des J. 1888 hatte es an seiner Westgrenze 8½ Armeekorps aufgestellt, während Deutschland und Österreich zusammen nur 5½ Armeekorps an ihren Ostgrenzen stehen hatten. Diese starke russ. Truppenmacht wurde im Laufe des J. 1888 noch um 2 Infanteriedivisionen und 1 Kavalleriedivision und 1889 wieder um je eine Division beider Waffengattungen verstärkt; im April 1890 wurde auch die Finanzgrenzwache militärisch organisiert und vermehrt.
Zugleich mit dieser durch die Schwierigkeiten einer russ. Mobilmachung bedingten Truppenanhäufung an den Westgrenzen, der 1889 in Angriff genommenen Vermehrung der strategischen Bahnen im Westen sowie des Fahrparks der Weichselbahn und der südöstl. Bahnen, erfolgten Maßregeln zur Verstärkung der gesamten russ. Armee. Im Juli 1888 wurde die Gesamtdienstzeit im Heer von 15 auf 18 Jahre erhöht, während gleichzeitig das jährliche Rekrutenkontingent eine Erhöhung um 15000 Mann erfuhr. Ein Ukas vom 13. Nov. vermehrte sodann die Zahl der 15 bestehenden Linienkorps um drei neue, die aus den überschüssigen Divisionen der alten Korps gebildet werden sollten. Dazu kam 1889 die Umwandlung der 20 Schützenbataillone im europ. Rußland in ebenso viele Regimenter zu 2 Bataillonen, die Bildung einer zweiten kombinierten Kosakendivision und die Erhöhung der Feldartilleriebrigaden von 6 auf 8 Batterien mit je 8 Geschützen.
Zu einem wirklichen Kriege mit Deutschland kam es zwar nicht, wohl aber zu einem Zollkriege. Nachdem 1890 die russ. Schutzzölle um 20 Proz. erhöht worden waren, begannen Febr. 1893 Verhandlungen mit Deutschland über einen Handelsvertrag. Als der Abschluß sich verzögerte, suchte Rußland 20. Juli durch Zollzuschlag von 50 Proz. auf deutsche Importartikel die deutsche Regierung zum raschern Abschluß zu drängen. Die deutscherseits 25. Juli hiergegen ergriffenen Maßnahmen schienen jedoch bald eine besonnene Stimmung in Petersburg hervorzurufen, und bald darauf begannen wiederum Verhandlungen, die zum Abschluß führten.
Der Reichstag genehmigte den Vertrag 16. März; 20. März wurde derselbe im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Den beiderseitigen Unterthanen wird im Handels- und Gewerbebetriebe das Vermögensrecht und gegenüber der Justiz und Verwaltung eine gleichmäßige Behandlung mit den eigenen Reichsangehörigen gewährleistet. Der gegenseitige Verkehr soll durch keinerlei Einfuhr- oder Ausfuhrverbote gehemmt werden. Eine Ausnahme ist nur für Gegenstände des Staatsmonopols zulässig. Russ. und deutsche Boden- und Gewerbeerzeugnisse genießen bei Verbrauch, Lagerung, Wiederaus- und Durchfuhr die Meistbegünstigung. Der Vertrag hat zunächst 10 Jahre Gültigkeit. Die Kündigungsfrist nach dieser Zeit ist einjährig. In R.fand der Vertrag allgemeinen Beifall.
Trotz der ablehnenden Haltung R.s befestigte sich die Regierung des Prinzen Ferdinand in Bulgarien unter der energischen Leitung Stambulows, und die wiederholten, von den russ. Panslawisten angezettelten Verschwörungen ließen die Sympathien für Rußland mehr und mehr schwinden, wenn es andererseits auch noch immer eine starke russenfreundliche Partei im Lande gab. Diese erlangte sogar einen großen Erfolg, indem sie Mai 1894 die Entlassung Stambulows durchsetzte, der hauptsächlich einer Annäherung mit Rußland widerstrebte.
Seitdem wird von bulgar. Seite alles versucht, um eine Versöhnung mit Rußland herbeizuführen. In Serbien gewann Rußland, als nach der Abdankung König Milans die russisch gesinnten Radikalen die herrschende Partei wurden, die Stellung, die es in Bulgarien vergebens erstrebte. Der Einfluß der geschiedenen Königin Natalie und die Proklamation der gegen Österreich und die Türkei gerichteten großserb. Ideen durch den Metropoliten Michael bei der Gedenkfeier der Schlacht auf dem Amselfelde (27. Juni) vollendeten diese Schwenkung der serb. Politik. Die Krönungsfeier des jungen Königs Alexander, zu der kein diplomat. Vertreter geladen war und nur der russ. Gesandte Persiani auf Befehl des Zaren erschien, sowie der Toast des Königs auf den Zaren brachten das Vasallenverhältnis Serbiens zu Rußland zum Ausdruck. Im Juli 1891 besuchte Alexander den Zaren in Petersburg; doch lockerten sich später die Beziehungen. (S. Serbien.) Nikola von Montenegro, [* 22] der «einzige aufrichtige Freund» R.s, fiel 1892 beim Zaren in Ungnade, weil er eine russ. Anleihe in «ein Gnadengeschenk des Kaisers verwandeln» wollte. Nun wurde der Versuch gemacht, Rumänien zu gewinnen; doch neigte der König Karl mehr zum Anschluß an den Dreibund.
In seiner asiat. Politik machte Rußland, dem hier nur England gegenüberstand, langsam, aber beständig Fortschritte. Die Einverleibung des Gebietes der Teke-Turkmenen bahnte Rußland den Weg nach Merw; unterwarfen sich die Turkmenenstämme von Merw. Das unterworfene Gebiet umfaßte 40000 Zelte und 280000 E. Etwa 1500 Familien verließen das Land und wandten sich nach Afghanistan. [* 23] Dort arbeitete eine russ.-engl. Grenzregulierungskommission, um eine feste Grenze zwischen Afghanistan und dem russ. Gebiet zu ¶