Jagdgöttin
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Jagdgöttin,
in der Mythologie der Griechen die Göttin der Jagd, ursprünglich wohl Göttin des Mondes, aber auch Göttin der Quellen und Flüsse, [* 4] der vegetativen Fruchtbarkeit, der Geburt und Kindespflege, der Hochzeit. Sie ist die Tochter des Zeus [* 5] und der Leto (Latona), nach der gewöhnlichen Sage als Zwillingsschwester des Apollon [* 6] und zwar vor ihm aus Delos geboren. Auf diese Insel deutete man auch die ihr nach andrer Tradition beigelegte Geburtsstätte Ortygia (s. Asteria); indessen machten auf denselben Namen und seinen mythologischen Ruhm noch andre Orte Anspruch, wo alter Artemisdienst herrschte, namentlich die bekannte gleichnamige Insel bei Syrakus. [* 7]
Als Kind auf den Knieen des Vaters spielend, erbat sich von ihm ewige Jungfrauschaft, 60 neunjährige Okeanostöchter zu Gespielen beim Tanz und 20 kretische Nymphen als Dienerinnen, ferner ruhmvollen Namen, Pfeil und Bogen [* 8] und alle Berge, um auf denselben zu jagen, dagegen nur eine einzige Stadt; denn auf den Bergen [* 9] wolle sie wohnen, in den Städten nur den Frauen in Geburtswehen helfen, wozu sie von den Schicksalsgöttinnen bestimmt sei, da ihre Mutter sie schmerzlos geboren habe.
Wie letztere, so wurde auch Artemis neben ihrem Bruder an allen wichtigern Stätten des Apollondienstes verehrt, namentlich in Delos auf dem Berg Kynthos (daher Kynthia), in Delphi (Ursprung der delphischen Sibylle) und zu Didyma, dem Heiligtum der Zwillinge, wo neben Apollon Hekaërgos Artemis als Hekaërge »Ferntreffende«) Verehrung genoß. Denn wie jener führt sie Pfeil und Bogen und kämpft an seiner Seite gegen den Drachen Python und gegen die Giganten. Wie Apollon, galt sie mit ihren Pfeilen auch als Ursache plötzlichen Todes, namentlich von Mädchen und Frauen, zugleich aber auch als schützende, heilbringende Gottheit.
Wie ihr Bruder der Lichtgott des Tages, so ist Artemis eine nächtliche Lichtgöttin, die daher auch die Fackel führt und im Lauf der Zeit mit allen möglichen Mond- und Nachtgöttinnen, wie Selene, [* 10] Hekate, [* 11] Bendis, Britomartis (s. d.), verschmilzt. Wie jener Phöbos, so heißt sie Phöbe (die »Reine«),
und beiden ist der Lorbeer geweiht, dessen Zweige bei Sühnungen gebraucht wurden. Ihr eigentliches Gebiet ist die freie Natur mit ihren Bergen und Thälern, Wäldern, Wiesen, Quellen und Flüssen; dort treibt sie mit den Nymphen, von allen die schönste und alle durch hohen Wuchs überragend, bald als rüstige Jägerin ihr Wesen, bald tanzt, spielt oder badet sie mit den Genossinnen. Als ihr liebstes Revier galt das berg- und waldreiche Arkadien, wo sie an vielen Stellen Heiligtümer, geweihte Jagdbezirke und heilige Tiere hatte.
Denn als Wald- und Jagdgöttin sind ihr alle Tiere der Fluren und Wälder, kurzum alles Wild, lieb und geweiht, und wie die Fruchtbarkeit in Wald und Feld, fördert sie auch das Gedeihen des Wildes; ja, selbst die Viehzucht, [* 12] die auf freier Weide [* 13] stattfindet (Ziegen, Rinder, [* 14] Pferde), [* 15] steht unter ihrer Obhut. In Ätolien war ihr der Eber, in Arkadien und Attika der Bär, das stärkste Tier des Waldes, geweiht. Für ihren Liebling galt aber in ganz Griechenland [* 16] die Hirschkuh, daher sie auf Hirschen reitet oder Hirsche [* 17] mit goldenem Geweih den Wagen der Göttin ziehen, ja diese selbst mitunter ein Hirschgeweih trägt.
Als Göttin der Jagd feierte man ihr alljährlich im Frühling das Fest der Elaphebolien (Hirschjagd), bei dem ihr Hirsche oder Kuchen in Gestalt solcher geopfert wurden. Der Wirkungskreis der Quell- und Flußgöttin Artemis erstreckte sich allmählich auch auf Seen und Meer; sie wurde zur Schutzgöttin der Seeleute, welche glückliche Fahrt verleiht, und daher in Häfen und an Vorgebirgen vielfach verehrt. Als Göttin des Weidwerks hatte Artemis ferner auch eine kriegerische Bedeutung, daher ihr von den Spartanern vor der Schlacht eine Ziege geopfert wurde.
Auch Miltiades hatte ihr vor der Schlacht bei Marathon so viel Ziegen zu opfern gelobt, als Feinde das Feld bedecken würden; weil man bei der großen Zahl das Gelübde nicht zu erfüllen vermochte, opferte man ihr alljährlich im Monat Boedromion (September bis Oktober) bei der marathonischen Siegesfeier 500 Ziegen. Nicht minder genoß Artemis als Mondgöttin Verehrung. So beging ihr in Amarynth auf Euböa die ganze Insel eine Feier mit festlicher Prozession und Kampfspielen, und zu Munychia in Attika wurden ihr im Monat Munychion (April bis Mai) zur Vollmondszeit große, rings mit Lichtern umsteckte Opferkuchen als Symbol des von ihr beherrschten Nachtgestirns in Prozession dargebracht.
Ein uraltes Heiligtum der Mondgöttin Artemis befand sich auch zu Brauron in Attika, das eine solche Verehrung genoß, daß das ursprüngliche Lokalfest der Brauronien später als Staatsfest auch von Athen [* 18] alle fünf Jahre beschickt und in der Hauptstadt selbst aus der Burg ein Tempel [* 19] der brauronischen Artemis errichtet wurde. Bei diesem Fest wurden die Mädchen von 5 bis 10 Jahren in krokusfarbenen Gewändern von ihren Müttern in Prozession der Göttin zugeführt und ihrem Schutz empfohlen.
Denn Artemis ist auch eine Pflegerin der Jugend. Als solcher feierte man ihr in Sparta ein besonderes Ammenfest, an welchem die Ammen ihre Säuglinge in den Tempel der Artemis brachten, opferten, schmausten und tanzten. Bei den Ioniern wurde ihr am Fest der Apaturien das Haar [* 20] der Knaben dargebracht, und fast überall verehrten die Mädchen die jungfräuliche Göttin als Schützerin ihrer Keuschheit und brachten ihr vor ihrer Vermählung eine Locke, den Gürtel, [* 21] ihr Mädchenkleid u. a. als Opfer dar.
Feindin alles zuchtlosen Wesens und selbst der Männerliebe feind, fordert Artemis jungfräuliche Reinheit auch von den Nymphen, ihren Genossinnen, wie von den Priesterinnen ihrer Tempel und bestraft unerbittlich jeden Fehltritt derselben (s. Kallisto) wie jedes Antasten ihrer Ehre (s. Orion, Aktäon) [* 22] oder der ihrer Mutter (s. Tityos, Niobe) und jede Vernachlässigung ihres Dienstes (s. Öneus). Mit ihrer Eigenschaft als Mondgöttin und Förderin des leiblichen Gedeihens, namentlich des weiblichen Geschlechts, hängt endlich auch die Vorstellung von ihr als Helferin bei der Entbindung (s. Eileithyia) und als Göttin der Hochzeit zusammen, als welche Artemis später mit Apollon ständig fungiert. In alter Zeit waren der Artemis auch Menschenopfer dargebracht worden; an Stelle derselben trat in Sparta der Brauch, jährlich die Knaben an dem Altar [* 23] der auch anderwärts verehrten Artemis Orthia (der »Aufrechten«, vielleicht von der Haltung des altertümlichen Holzbildes) oder Orthosia (in Lokalkulten auch Iphigeneia genannt) bis aufs Blut zu geißeln. Man sah in Sparta das alte Bild der Göttin als das von Iphigenia und Orestes von der Taurischen Halbinsel entführte Bild der taurischen Artemis an, einer ¶
skythischen Gottheit, die man wegen der in ihrem Kultus üblichen Menschenopfer mit jener identifizierte. Ebensowenig wie diese ist die von den Ioniern Asiens verehrte von Ephesos [* 25] eine griechische Gottheit, sondern, wie schon die ganz ungriechische Besorgung ihres Dienstes durch Verschnittene zeigt, eine asiatische und als Mondgöttin und auf Bergen, in Wäldern und im Feuchten wirkende, das Leben der Vegetation, der Tiere und Menschen nährende Naturkraft von den griechischen Ansiedlern mit ihrer Artemis identifiziert, zum Unterschied von der sie nicht jungfräulich, sondern, wie es auch die vielen Brüste ihres rohen Bildes ausdrückten, mütterlich und ammenartig gedacht war. Ihr nach asiatischer Art stürmischer und fanatischer Dienst wurde auf die Amazonen zurückgeführt. Außerdem wurde in Asien [* 26] noch eine Anzahl andrer heimischer Gottheiten von den Griechen unter dem Namen Artemis verehrt. - Die Römer [* 27] identifizierten mit der Artemis die altitalische Mondgöttin Diana (s. d.).
Die bildende Kunst stellte die Artemis, wie ihren Bruder Apollon, je nach den verschiedenen Bedeutungen verschieden dar. Während die ältere Kunst in ihr mehr die licht- und segenspendende Göttin, die Beschützerin von Tier und Menschen wiedergibt, faßt die spätere Zeit sie mehr als die jungfräuliche Jägerin auf Bogen und Fackel waren ihre gewöhnlichen Attribute; ihre Kleidung war im ältern Stil lang herabwallend und faltenreich, später kurz geschürzt und derjenigen der Amazonen verwandt.
An den Füßen trägt sie häufig Jägerschuhe. Ihr Gesichtsschnitt zeigt Verwandtschaft mit dem des Apollon, nur sind die Formen zarter und rundlicher. Eigentümlich ist beiden (aber auch der Aphrodite) [* 28] das Hinaufbinden der Haarflechten auf den Scheitel in einen gewöhnlich Krobylos genannten Knoten. Als Jägerin erscheint Artemis häufig in lebhaftem Ausschritt, nach dem im Rücken hängenden Bogen greifend, an ihrer Seite ein Reh; [* 29] so aufgefaßt ist die berühmte von Versailles [* 30] im Louvre, gefunden in der Villa Hadrians bei Tivoli (vgl. Abbildung).
Mit Fackel und Bogen ist die hochgeschürzte Artemis Laphria auf Münzen [* 31] wiedergegeben. Als Hegerin des Wildes mit langem Gewand und wallendem Mantel zeigt sich die archaisierende Statue von Gabii in München. [* 32] Mit Symbolen überladen ist das altertümliche Bild der oben erwähnten von Ephesos, einer nach oben sich verbreiternden Säule mit Füßen, Kopf, Armen und zahlreichen Brüsten gleichend. Eine elegante Nachahmung eines ältern Kultusbildes ist die Statue einer Artemis im Museum zu Neapel [* 33] (1760 in Pompeji [* 34] in einem kleinen Tempel gefunden), mit langem, zierlichem Gewand bekleidet, den Köcher auf dem Rücken, besonders interessant wegen der deutlich sichtbaren Spuren von Bemalung.
Von großer Schönheit ist auch die Artemis Colonna im Berliner [* 35] Museum, ebenfalls lang gewandet und vielleicht ursprünglich zwei Fackeln haltend; ferner ein Bronzekopf des Britischen Museums, der wahrscheinlich aus Griechenland stammt. Nicht mehr erhalten sind die im Altertum gefeierten Werke von Skopas, Praxiteles, Timotheos u. a.
Vgl. Claus, De Dianae antiquissima apud Graecos natura (Bresl. 1881);
Schreiber, (in Roschers »Lexikon der Mythologie«, Leipz. 1884).
[* 2] ^[Abb.: Artemis (Diana von Versailles; Paris, [* 36] Louvre).]