Jungdeutschland
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Jungdeutschland,
Deutschland,
[* 3] Name einer Schriftstellergruppe, welche nach 1830 die Führung der deutschen Litteratur zu übernehmen
und die weitere Entwickelung dieser Litteratur zu bestimmen beanspruchte. Im engsten Zusammenhang standen die
»jungdeutsche«
Auffassung von den künftigen Aufgaben der Litteratur und
der Glaube an eine neue Periode eigentümlichen Geisteslebens einerseits mit der allmählich eingetretenen Entartung der Romantik
und anderseits mit dem politischen Drang und Bedürfnis der Zeit.
Die Erregung, welche durch die französische Julirevolution von 1830 in ganz Europa [* 4] erweckt war, der Aufschwung, den der Liberalismus überall nahm, begünstigten eine litterarische Richtung, welche danach strebte, die seither geltenden (teils um der Gewöhnung des Publikums, teils um der Zensur willen beizubehaltenden) Formen der Belletristik mit einem wesentlich politischen Inhalt zu erfüllen. In der Annahme, daß der gesamte Lebensgehalt der seitherigen deutschen Dichtung überlebt und wirkungslos geworden sei, wollte das junge Deutschland durchaus neue Gefühle, neue Gesinnungen und Überzeugungen, neue gesellschaftliche Zustände und neue Menschen darstellen und verzweifelte nicht daran, auf seinem Weg auch seither unerhörte Wirkungen zu gewinnen.
Die Ideen des politischen und religiösen Liberalismus und der Kampf mit den diesen Zielen im Weg stehenden Mächten galten den Vertretern der neuen Anschauung als sichere Bürgschaften einer litterarischen Glanzperiode, welche jene des 18. Jahrh. weit hinter sich lassen würde. Obschon zu den Vorkämpfern des jungen Deutschland ein großer lyrischer Dichter wie Heinrich Heine gehörte, so legte man doch das Hauptgewicht auf die Pflege der Prosa, in welcher allein der moderne Stil zu seinem Recht gelangen könne.
Ein förmlicher Kultus des ziemlich undefinierbaren Begriffs der »Modernität«, eine tiefe Feindseligkeit gegen eine Entwickelung
der deutschen Poesie, welche ebendiese Poesie auf die Höhe der Kunstvollendung geführt hatte, waren gemeinsame Kennzeichen
der sonst vielfach auseinander gehenden, ja persönlich verfeindeten jungdeutschen
Schriftsteller. Über
Wert und Wesen der gegenwärtigen Erscheinungen, über die Berechtigung der einzelnen modernen Bestrebungen befand sich die
kleine Zahl der Hauptwortführer von vornherein in einem Zwiespalt, der sich in dem persönlichen Zerwürfnis Ludwig Börnes
und Heinrich Heines charakteristisch kundgab. An Börne schloß sich Karl Gutzkow, während Heinrich Laube den
Pfaden Heines folgte, Wienbarg, Th. Mundt, Gust. Kühne u. a. sich zwischen diesen Gegensätzen zu behaupten suchten.
»Herrschend blieb bei alledem die Vorstellung, daß die deutsche Litteratur in eine Epoche des Geistes eingetreten sei, unter welchem Geist namentlich ein flüssiges, flüchtiges Element geistreicher Einfälle und Wortwendungen, die rasche Befreundung mit jeder Art des Zweifels, der Anschluß an die kecksten sittlichen und gesellschaftlichen Neuerungen, die Hingabe an auffallende, wunderbare, launen- und krankhafte Erscheinungen verstanden wurde. Außer Zweifel stand es ferner für die Vertreter der Richtung, daß die neufranzösische Litteratur die Rolle einer Vorkämpferin für die übrigen europäischen Litteraturen übernommen habe. Zu den Einwirkungen der französischen, mehr oder minder von den politischen und sozialen Gärungen und gewaltsamen Kämpfen ihres Landes bewegten Schriftsteller gesellten sich die litterarischen Resultate gewaltiger und tiesreichender Bewegungen in der deutschen Philosophie und Theologie.« (Stern.) Es genügt, bezüglich der letztern Seite des jungen Deutschland an Hegel, seine Schule, an D. Fr. Strauß [* 5] zu erinnern.
Der Grundirrtum des jungen Deutschland lag in der Annahme, daß die Totalität des Lebens innerhalb der Poesie jemals durch eine
gerade vorwaltende Strömung des Lebens ersetzt werden könne, daß die zeitgemäße Gesinnung und die geistige Beweglichkeit
jemals die Gestaltungskraft und die Tiefe der Natur zu vertreten vermöge, daß der politische Instinkt
für die Neigungen des Tags mit dem poetischen Gefühl für das Bleibende in den menschlichen Dingen gleichwertig sei. Von dem
Augenblick an, wo die Jungdeutschen
selbst erkannten, daß
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der Journalismus keine Litteratur bilde, daß die skizzenhafte, fragmentarische Geistreichigkeit wohl die alten Formen der Kunst aufheben, aber keine neuen erzeugen könne, mit dem Anschluß Gutzkows, Laubes an die Bühne und die Romandichtung war die Kraft [* 7] der Bewegung erschöpft, wenngleich Nachwirkungen ihrer Irrtümer sich noch über die folgenden Jahrzehnte erstreckten. Offiziell wurde der Name des »jungen Deutschland« in dem Beschluß des deutschen Bundestags vom gebraucht, welcher die Schriften Heines, Börnes, Gutzkows, Laubes, Wienbargs und Theod. Mundts verbot.
Die Proteste, welche einige der Genannten erließen, halfen für den Augenblick wenig; da sich aber mit jedem Tag klarer herausstellte, daß das junge Deutschland allenfalls eine litterarische Schule (und selbst das kaum) und unbedingt kein fester Bund von Gesinnungsgenossen sei, da die Lächerlichkeit, noch gar nicht erschienene Schriften zu verbieten, zu augenfällig war, da durch Annahme falscher Namen das ganze Verbot leicht umgangen werden konnte, so ward dasselbe zwar nie zurückgenommen, aber stillschweigend außer Kraft gesetzt.
Gerade das politische Märtyrertum, mit dessen Heiligenschein der Bundestag die Häupter der willkürlich zum jungen Deutschland zusammengekoppelten Schriftsteller umkleidete, weckte in jenen Tagen der liberalen Bestrebungen die Teilnahme für die verfemten Talente und erschwerte auch in späterer Zeit die sachgemäße Beurteilung und unerläßliche Kritik der Theorien und Leistungen des jungen Deutschland.
Vgl. Brandes, Das junge Deutschland (Leipz. 1887);
Wehl, Das junge Deutschland (Hamb. 1886). -
Über die J. D. genannte politische Vereinigung s. Junges Europa.