Titel
Locke
(spr. lock), John, berühmter engl. Philosoph, geb. zu Wrington bei Bristol, studierte seit 1651 in Oxford [* 2] Medizin, klassische Litteratur und Cartesianische Philosophie, wurde 1665 Erzieher des nachmaligen philosophischen Schriftstellers Shaftesbury, fiel mit dessen Vater, seinem Gönner, dem Großkanzler Grafen Shaftesbury, bei Jakob II. in Ungnade, kehrte nach des letztern Entthronung nach England zurück und starb zu Oates in Essexshire.
Durch sein philosophisches Hauptwerk: »Essay concerning human understanding« (Lond. 1690; deutsch von v. Kirchmann, Leipz. 1872),
gegen welches Leibniz seine »Nouveaux essais sur l'entendement humain« verfaßte, ist er der Gründer des psychologischen Empirismus und durch den in demselben enthaltenen Versuch einer Erkenntnistheorie der Vorläufer Kants, durch seine (freisinnigen) zwei Abhandlungen über die bürgerliche Regierung der Wortführer des politischen Liberalismus sowie durch seine Schrift über die Vernunftmäßigkeit des Christentums jener der religiösen Toleranz und endlich durch seine »Some thoughts concerning education« (Lond. 1693; deutsch von Sallwürk, Langens. 1883) der Vater der Rousseauschen und dadurch aller neuern Pädagogik geworden.
Jenes Werk besteht aus zwei Teilen. Der erste betrachtet die
Vorstellungen, deren Ursprung und die aus ihrer Entstehungsweise
sich ergebenden verschiedenen
Arten derselben; der zweite handelt von der
Verbindung der
Vorstellungen zur
Form der
Erkenntnis und sucht die
Gewißheit,
Realität und den
Umfang des menschlichen
Erkennens nebst den
Grenzen
[* 3] zwischen dem
zuverlässigen
Wissen, dem
Meinen und dem
Glauben zu bestimmen. Gegen die Cartesianische
Annahme, wonach dem menschlichen
Geist
gewisse
Grundsätze und
Begriffe ursprünglich innewohnen sollen, hebt Locke
hervor, daß unsre
Vorstellungen,
mithin die Materialien unsers
Denkens, aus der
Erfahrung stammen, welche als
Sensation die äußern sinnenfälligen
Objekte,
als
Reflexion
[* 4] die innern Thätigkeiten unsers
Geistes erfasse. Indem er hinsichtlich der
Reflexion oder
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Selbstbeobachtung bemerkte, daß ihr zwar nicht, wie der Sensation, ein Sinn zu Grunde liege, daß sie aber gleichwohl viel Ähnlichkeit [* 6] mit der Sinneswahrnehmung habe und daher als innerer Sinn bezeichnet werden könne, wurde er Urheber der bis auf die Gegenwart von vielen Psychologen, namentlich auch von Kant, festgehaltenen (fälschlichen) Ausdrucksweise, nach welcher der innere Sinn als Organ des Selbstbewußtseins dem äußern entgegengesetzt und auf ihn die Wahrnehmung unsrer eignen Seelenzustände, auf den äußern aber die Wahrnehmung der körperlichen Gegenstände und leiblichen Zustände zurückgeführt wird.
Die Vorstellungen sind nach Locke
entweder einfache oder zusammengesetzte; jene sind keiner Erklärung bedürftig und fähig,
die Entstehung der letztern führt auf Denken und Wollen zurück. Die für uns vorstellbaren Eigenschaften der Körper teilt
er in drei Klassen:
1) die ursprünglichen, ersten oder realen Eigenschaften, welche als unzertrennlich von den Körpern in jedem wahrnehmbaren Teil der Materie gefunden werden, wie Ausdehnung, [* 7] Größe, Zusammensetzung, Dichtheit, Gestalt, Zahl, Lage, Bewegung und Ruhe;
2) die sekundären oder sinnlichen, denen an den Körpern selbst nichts andres zu Grunde liegt als das Vermögen, vermittelst der Größe, Gestalt, Verbindung und Bewegung ihrer kleinsten, für sich nicht wahrnehmbaren Teile verschiedene Sinneswahrnehmungen, z. B. die Empfindungen der Farben oder Töne, in uns hervorzurufen;
3) die »Kräfte«, d. h. jene Eigenschaften, welche gleichfalls als bloße Vermögen sich darin äußern, daß ein Körper auf Grund der besondern Beschaffenheit seiner Eigenschaften in denen eines andern Körpers Veränderungen hervorzubringen vermag, so daß dieser nunmehr unsre Sinne anders anregt als vorher. Bei der Aufnahme der einfachen Vorstellungen verhält das Erkenntnisvermögen sich leidend und vermag keine derselben willkürlich in sich zu erzeugen.
Dagegen übt es an ihnen verschiedene Funktionen seiner Selbstthätigkeit aus, insofern es in ihnen die Grundlagen (Materialien) zu neuen Vorstellungen findet. Namentlich sind es die Thätigkeiten der Zusammensetzung, der Vergleichung und der Abstraktion, wodurch das Erkenntnisvermögen seine Macht in der Behandlung und Verarbeitung der einfachen Vorstellungen darthut. Die durch Zusammensetzung entstehenden Begriffe lassen sich in drei Klassen ordnen, insofern sie entweder innere Merkmale der Dinge, oder Verhältnismerkmale, oder Substanzbegriffe sind.
Das Erkennen definiert Locke
als die Wahrnehmung teils der Übereinstimmung und der Verbindung, teils der Getrenntheit und des
Widerstreits zwischen unsern Vorstellungen. Nach den Abstufungen der Zuverlässigkeit der Erkenntnis gibt
es drei Arten derselben: die anschauliche oder intuitive, bei welcher wir die Übereinstimmung oder die Unvereinbarkeit gegebener
Vorstellungen unmittelbar durch das Verständnis ihres Inhalts ohne Dazwischenkunft einer andern Vorstellung einzusehen vermögen;
die durch den Schluß vermittelte oder demonstrative, wobei wir hierzu der Vermittelung andrer Vorstellungen bedürfen;
die sinnliche, welche die Existenz endlicher Wesen außer uns zum Gegenstand hat, der man aber den Namen einer Erkenntnis nur deshalb beilegt, weil sie mehr als bloße Wahrscheinlichkeit bietet, ohne die eben genannten beiden Stufen der Zuverlässigkeit zu erreichen.
Auf den Zweifel, ob unsern Vorstellungen die Existenz realer Dinge wirklich entspreche, läßt sich nur erwidern, daß wir die Beziehung gewisser Gegenstände, deren Dasein wir entweder mit den Sinnen wahrnehmen, oder wahrzunehmen glauben, auf uns unleugbar bemerken, vornehmlich indem wir erfahren, daß sie für uns entweder von Vergnügen oder von Schmerz begleitet werden, daß aber unser Erkennen sich keineswegs über die gesamte Wirklichkeit der Dinge, ja nicht einmal über den Umfang unsrer eignen Wahrnehmungen erstreckt.
Namentlich ist hinsichtlich der Koexistenz und des Verbundenseins der Vorstellungen unsre Erkenntnis sehr beschränkt. So sind uns die Grundursachen der sinnlichen Eigenschaften der Körper wie auch die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen den ursprünglichen und den abgeleiteten Beschaffenheiten unbekannt. Noch weit mehr sind die geistigen Substanzen unsrer Erkenntnis entzogen, denn wir erlangen von ihnen auf natürlichem Wege keine andern Vorstellungen als diejenigen, welche wir durch Reflexion über die wahrnehmbaren Thätigkeiten unsrer eignen Seele gewinnen, und es läßt sich demnach schon auf die Frage, ob die Seele materiell oder immateriell sei, keine entscheidende Antwort geben.
Von unserm eignen Dasein besitzen wir eine intuitive, von Gottes Dasein eine demonstrative, von dem Dasein aller übrigen Dinge eine sinnliche Erkenntnis, welch letztere aber nicht über den Wahrnehmungskreis der Sinne hinausreicht. Da alle menschliche Erkenntnis die Gegenstände nicht unmittelbar, sondern nur unter der Vermittelung von Vorstellungen erfaßt, so kommt ihr auch bloß insoweit Realität zu, als Übereinstimmung zwischen unsern Vorstellungen und der Wirklichkeit der Dinge stattfindet.
Letztere dürfen wir insofern mit Gewißheit annehmen, als die einfachen Vorstellungen, weil sie der Verstand nicht selbst zu erzeugen vermag, notwendig das Produkt von Dingen sein müssen, welche eine natürliche Einwirkung auf unsre Seele ausüben, sodann insofern, als die zur Realität der Erkenntnis erforderliche Übereinstimmung keinem unsrer zusammengesetzten Begriffe (mit Ausnahme der Vorstellungen von den Substanzen) fehlen kann, da die übrigen insgesamt nicht Kopien existierender Dinge, sondern von dem Verstand selbst gebildete Originale sind und wir bei allem unsern Denken, Schließen und Untersuchen die Dinge nur insoweit in Anspruch nehmen, als sie ihrerseits solchen Begriffen entsprechen.
Hierher gehören z. B. die mathematischen Begriffe. Die Wahrheit in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes ist eine Verbindung und Trennung von Zeichen, welche dem gegenseitigen Verhältnis der bezeichneten Dinge gemäß erfolgt. Da nun das Urteilen in dem Verbinden und Trennen der Zeichen besteht, so betrifft die Wahrheit nur unsre Urteile. Alle Erkenntnis besteht teils aus besondern, teils aus allgemeinen Wahrheiten. Die letztern können nur gehörig mitgeteilt und gefaßt werden, wenn sie in Sätzen ausgesprochen sind, denn bloß in unsern durch allgemeine Sätze bezeichneten Vorstellungen ist die Gewißheit des Allgemeinen zu finden; suchen wir dieselbe außer uns mit Hilfe unsrer Wahrnehmungen, so gelangen wir lediglich zur Erkenntnis des Besondern. Da der Verstand dem Menschen nicht nur zu einem theoretischen, sondern auch zu einem praktischen Gebrauch, nämlich zur vernunftgemäßen Lebensführung, verliehen ist, so würden wir übel daran sein, wenn uns für diesen letztern Behuf lediglich die Gewißheit wahrer Erkenntnis von Nutzen sein könnte. Denn bei der Beschränktheit derselben würden wir uns in betreff der meisten Handlungen im unklaren befinden, wenn wir nichts hätten, was uns in Ermangelung einer klaren und zuverlässigen Erkenntnis für die praktischen ¶
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Beziehungen zum Führer dienen könnte. Dazu ist uns das Vermögen des Meinens verliehen, bei dessen Anwendung der Verstand annimmt, daß Vorstellungen sich übereinstimmend oder widersprechend zu einander verhalten, ohne dies entweder unmittelbar mit Entschiedenheit einzusehen, oder hiervon durch zureichende Beweise die einleuchtende, demonstrative Gewißheit erlangt zu haben. Bei dieser Art der Überzeugung, der Wahrscheinlichkeit, gibt es verschiedene Grade von der nächsten Angrenzung an Gewißheit und Demonstration bis zur Unwahrscheinlichkeit und zur Grenze der Unmöglichkeit, denen die Grade der Beistimmung oder des Fürwahrhaltens von der vollen Zuversicht bis herab zur Mutmaßung, zum Zweifel und Mißtrauen entsprechen.
Lockes
Empirismus ist als erster Versuch einer auf Selbstbeobachtung gestützten und nach Vollständigkeit
strebenden Behandlung der Erkenntnislehre nicht bloß für die empirische Psychologie, sondern insbesondere durch seine Fortbildung
durch Berkeley zum empirischen Idealismus, durch Hume zum Skeptizismus sowie durch seine Einwirkung auf Leibniz, welcher dessen
Satz: Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu den Zusatz beifügte: nisi ipse intellectus, und
auf Kant, welcher die Kritik des Erkenntnisvermögens vom letztern Standpunkt aus wieder aufnahm, von Einfluß gewesen. Lockes
»Posthumous works« erschienen 1706, Nachträge dazu (»Collection
of several pieces«) 1720. Gesamtausgaben seiner vielfach aufgelegten Schriften erschienen zu London
[* 9] 1801 und 1812 in 10 Bänden
und 1835 in 9 Bänden. Die »Philosophical works« gab St. John (Lond. 1854, 2 Bde.) besonders
heraus. Sein Leben beschrieben Lord King (Lond. 1829, neue Ausg. 1858) und Fox Bourne (das. 1876, 2 Bde.),
letzterer zum Teil nach bisher unbekannten Quellen, durch ungedruckte Briefe und Abhandlungen bereichert.
Vgl. Tagart, Locke's
writings and philosophy (Lond. 1855);
Webb, Essay on the intellectualism of John Locke
(das. 1858);
Schärer,
John Locke
(Leipz. 1860);
Cousin, La philosophie de Locke
(6. Aufl., Par. 1873).
Eine Vergleichung der Locke
schen Erkenntnislehre mit der Leibnizschen Kritik gaben Hartenstein (Leipz. 1861) und v. Benoit (Bern
[* 10] 1870),
eine Darstellung seiner Substanzenlehre de Fries (Brem. 1879).