Baumkultus
,
die bei den meisten Natur- und Kulturvölkern übliche, entweder an besonders große und alte Exemplare bestimmter Baumarten oder an den Wald im allgemeinen gerichtete Bezeugung einer religiösen Verehrung. Im Grund beruht dieselbe wohl auf der Vorstellung, daß der hochstrebende und langlebige Baum vor andern Gewächsen als ein beseeltes Wesen, als ein Hort des in Dryadengestalt verkörperten Lebens der Natur, ja als ein Symbol der Unsterblichkeit aufzufassen sei.
Dem »Baum des Lebens« begegnen wir bereits aus den ältesten assyrischen, persischen und ägyptischen Bildwerken, und ihm stellen sich ähnliche Ideenverkörperungen in der Weltesche Ygdrasill, in dem indischen Baum Kummerlos (Asoka),
in dem persisch-jüdischen »Baum der Erkenntnis« etc. an die Seite. Als vorzüglich anbetungswürdige Verkörperungen der schaffenden Naturkraft erschienen den Indern die beiden heiligen Feigenbäume (Ficus indica und F. religiosa), die eine bedeutsame Rolle in der Kulturgeschichte Asiens gespielt haben. Mit diesen Ideen in Verbindung stehen die im alten Persien, [* 3] Griechenland [* 4] und Germanien, [* 5] aber auch in überseeischen Ländern heimischen Mythen von der Erschaffung des ersten Menschenpaars aus Bäumen (Ask und Embla), und der Araber nennt die Palme [* 6] den mit ihm zugleich erschaffenen »Bruder des Menschen«. Darauf ¶
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bezieht sich ferner die Sitte der Griechen und Römer, [* 8] dem Schutzgeist oder Genius des Neugebornen einen Baum (meist eine Platane) [* 9] zu pflanzen, demselben einen Altar [* 10] und persönlichen Kultus zu widmen, ihn mit Wein zu begießen und mit Binden zu umkränzen. Unzählige orientalische und occidentalische Sagen berichten in demselben Sinn von einer Verwandlung der Menschen in Bäume und dem Fortleben insbesondere gewaltsam umgekommener Personen in solchen. So lebt Osiris [* 11] im Erikabaum, der seinen Sarg umschloß, Haoma in der heiligen Haomapflanze, Daphne im Lorbeer, Cypressus in der Cypresse, die Schwestern des Phaëthon in den weinenden Bernsteinbäumen etc. Besonders nutzbare Bäume aber wurden als persönliche Gaben und Geschenke bestimmter Gottheiten betrachtet und verehrt, wie der Ölbaum der Minerva, die Strandkiefer des Poseidon, [* 12] der Weinstock des Bakchos, die Eiche des Zeus [* 13] etc. In der Auswahl war offenbar eine irgendwie begründete Symbolik maßgebend gewesen; so wurde die Fichte [* 14] dem Poseidon heilig, weil sie Schiffsholz und Masten hergibt, der Feigenbaum dem Pan [* 15] und Priap, weil er so üppig wächst und reich an Milchsaft ist, der Hartriegel dem Ares, [* 16] weil man von ihm Speerholz gewann, die Eiche dem Zeus, weil der Blitz dieselbe angeblich häufiger trifft, der Lorbeer dem Apollon, [* 17] weil sein Laub zum Kranz des Ruhms diente.
Infolgedessen wurden die Tempel [* 18] der betreffenden Gottheiten mit den entsprechenden Baumarten umpflanzt und diesen heiligen Hainen ein besonderer Kultus gewidmet. Fichte und Cypresse wurden als Symbole der Todesgottheiten vor die Trauerhäuser gepflanzt (weil sie, einmal gestutzt, nie wieder ausschlagen) und dienten zugleich bei dem Schaugepränge der beklagten Sonnengottheiten, so in den mit großartigen Aufzügen gefeierten Attis-, Adonis- und Dionysosfesten etc. Von den Kelten wird uns erzählt, daß sie die Steineiche und Wälder von solchen über alles verehrten, und die römischen Schriftsteller berichten uns von den heiligen Hainen und Bäumen der germanischen Stämme, die später von Christenaposteln oft mit Ostentation gefällt, in andern Fällen aber durch Heiligenbilder neu geweiht wurden.
Auch hier waren den einzelnen Gottheiten besondere Baumarten heilig; wir hören außer von der Weltesche Ygdrasill, dem Lebensbaum
der Germanen, von den Eichen Odins, den Ebereschen Thors, dem Apfelbaum der Iduna reden, und besonders scheint die Linde, welche
man überall in die Mitte der Ortschaften pflanzte, den germanischen wie den slawischen Stämmen heilig
gewesen zu sein. Einzelne gefeierte Bäume erreichten Weltruf, so der Ölbaum auf der Akropolis,
[* 19] die heilige Palme auf der Insel
Delos, der Feigenbaum, unter welchem Romulus und Remus gesäugt worden waren, zu Rom,
[* 20] ein Hartriegelbaum daselbst, die
Platane des Cäsar in Tartessus u. a. m. Eine besondere Seite des Baumkultus
zeigten die
Jahreszeitenfeste mit reichen Laubausschmückungen, namentlich im alten Germanien, die Kämpfe zwischen Frühjahr und Winter
in dramatischen Szenen (s. Maifest), das Julfest mit Tannen und Mistelschmuck der Wohnungen, Kultusformen, die in unsrer Pfingstausschmückung
und unsern Weihnachtsgebräuchen noch heute fortleben, und ebenso lebt in den Sagen von den bei Verletzungen
blutenden und unverletzlichen Bäumen ein Teil dieser Vorstellungen fort, die sich früher noch in höchst schweren Strafen
für Baumfrevler ausdrückten. Einer eigentümlichen Art von Baumkultus
gehören endlich die mit bunten Bändern und Fetzen geschmückten
Lappenbäume (s. d.) der verschiedensten Völker an.
Vgl. K. Bötticher,
Der Baumkultus
der Hellenen (Berl. 1857);
W. Mannhardt, Der Baumkultus
der Germanen und ihrer Nachbarstämme (das. 1875).