Begnadigung
(lat. Aggratiatio), der gänzliche oder teilweise
Erlaß der durch eine strafbare
Handlung verwirkten
Strafe
durch das Staatsoberhaupt; Begnadigun
gsrecht (jus aggratiandi), die Befugnis zu solcher
Verfügung, ein
wichtiges Souveränitätsrecht. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der Begnadigung
im engern
Sinn
(Einzelbegnadigung
) und der sogen.
Amnestie, je nachdem es sich um die Begnadigung
eines einzelnen Verbrechers oder um die Begnadigung einer
ganzen
Klasse von Verbrechern handelt.
Eine solche
Amnestie
(Generalpardon) kommt namentlich politischen Verbrechern gegenüber vor, um nach politisch
bewegten
Zeiten eine
Versöhnung der Staatsregierung mit ihren Gegnern herbeizuführen. Die Einzelbegnadigung
ist ebenso wie
die
Amnestie entweder eine Begnadigung
nach oder vor gefälltem
Strafurteil. Für den letztern
Fall ist der
Ausdruck
Abolition
(Niederschlagung)
gebräuchlich. Die nach gefälltem
Strafurteil eintretende Begnadigung
kann entweder in einem gänzlichen (aggratiatio
plena) oder in einem teilweisen
Erlaß der
Strafe bestehen (aggratiatio minus plena), oder sie tritt erst nach teilweiser
Vollstreckung
der
Strafe ein, indem
sie den
Erlaß des Strafrestes herbeiführt, oder indem sie die mit der
Strafe verbundenen Rechtsnachteile
aufhebt. In diesem letztern
Sinn wird die Begnadigung
als
Rehabilitation bezeichnet, wenn sie die Wiederherstellung
der dem Verbrecher entzogenen bürgerlichen
Ehrenrechte enthält.
Darüber, ob das Begnadigung
srecht des
Souveräns, welches verfassungsmäßig in den meisten Kulturstaaten ausdrücklich anerkannt
ist, auch vom rechtspolitischen und rechtsphilosophischen Standpunkt aus zu rechtfertigen sei, ist viel Streit. Namentlich
war der große
Philosoph
Kant ein Gegner desselben. Es läßt sich ja in der That auch nicht leugnen, daß
das Begnadigung
srecht eine
Abweichung von dem nach der Gesetzesvorschrift stattfindenden strafrechtlichen
Verfahren bewirkt,
daß ferner die Möglichkeit einer willkürlichen und ungerechten Handhabung desselben nicht ausgeschlossen ist, und daß
dasselbe endlich ganz entbehrlich sein würde, wenn die Strafgesetzgebung und die Rechtsprechung vollkommen
wären. Da dies aber bei der Mangelhaftigkeit aller menschlichen Einrichtungen nie ganz der
Fall sein wird, da vielmehr das
formelle
Recht, wie es sich in den Durchschnittsregeln der Strafgesetzgebung darstellt, mit dem materiellen
Recht, wie es der
Idee der höhern
Gerechtigkeit und
Billigkeit entspricht, immerhin in
Widerspruch geraten kann, so erscheint
das Begnadigung
srecht des
Souveräns als dessen schönstes
Recht, notwendig zur Vermittelung und Ausgleichung der
Härten des
starren
Rechts.
Wohl zu beachten ist aber hierbei, daß die Anwendungssphäre des Begnadigung
srechts eine engere wird, je größer der
Spielraum ist, welchen die Strafgesetze dem richterlichen Ermessen bei Ausmessung der
Strafe offen lassen,
und je mehr der
Richter selbst hiernach die individuellen Verhältnisse des Angeschuldigten berücksichtigen kann, wie dies
namentlich nach dem deutschen
Strafgesetzbuch der
Fall ist. Das
Recht der Begnadigung
steht dem Monarchen und in den
Republiken den verfassungsmäßig
damit ausgestatteten
Organen, so z. B. in den deutschen
Freien
Städten dem
Senat, zu. In leichtern
Fällen
ist die Ausübung dieses
Rechts von dem
Souverän vielfach bestimmten Behörden, besonders dem
Justizministerium, in Kriegszeiten
einem kommandierenden
General, einem
Statthalter etc.
übertragen. Im
Deutschen
Reich hat der
Kaiser als solcher nur in denjenigen
Strafsachen das
Recht der Begnadigung
, welche in erster
Instanz vor das
Reichsgericht gehören, also in den
Fällen
des
Hochverrats und des
Landesverrats, insofern diese
Verbrechen gegen den
Kaiser oder das
Reich gerichtet sind (deutsche Strafprozeßordnung,
§ 484), sowie in denjenigen
Fällen, in welchen ein deutscher
Konsul oder ein Konsulargericht in erster
Instanz erkannt hat.
Auch übt
¶
mehr
der Kaiser für Elsaß-Lothringen
[* 4] das Recht der Begnadigung
aus. Im übrigen steht das Begnadigungsrecht den Monarchen der deutschen
Einzelstaaten und in den Freien Städten den Senaten zu. Für Preußen
[* 5] ist das Begnadigung
swesen durch eine allgemeine Verfügung
des Justizministers vom geregelt. Todesurteile bedürfen nach der deutschen Strafprozeßordnung (§
486) zu ihrer Vollstreckung zwar keiner Bestätigung mehr, doch sollen sie nicht eher vollstreckt werden, als bis die Entschließung
des Staatsoberhauptes, resp. des Kaisers ergangen ist, in dem vorliegenden Fall von dem Rechte der Begnadigung keinen Gebrauch machen
zu wollen.
Analoge Bestimmungen gelten in Österreich. [* 6] Übrigens ist in den Verfassungsurkunden der modernen konstitutionellen Monarchien eine Beschränkung des Begnadigungsrechts insofern anerkannt, als ein Minister oder ein sonstiger höherer verantwortlicher Staatsbeamter, welcher durch die Stände einer Verfassungsverletzung angeklagt worden ist, von der gegen ihn deshalb ausgesprochenen Strafe nicht oder doch nur auf Antrag der anklagenden Kammer selbst im Gnadenweg befreit werden kann, weil sonst ein Hauptmoment des konstitutionellen Systems, das Institut der Ministerverantwortlichkeit und Ministeranklage, hinfällig werden würde (vgl. die Verfassungsurkunden von Belgien, [* 7] § 91; Preußen, § 49; Sachsen, [* 8] § 150; Württemberg, [* 9] § 205; bayrisches Gesetz, die Verantwortlichkeit der Minister betreffend, vom Art. 12, etc.). Eine weitere Beschränkung des Begnadigungsrechts ist in manchen Verfassungsgesetzen in Ansehung der Abolition enthalten, die teils für gänzlich unzulässig erklärt, teils wenigstens bei gewissen Verbrechen nicht statthaft ist.
Andre Verfassungsurkunden knüpfen die Zulässigkeit der Niederschlagung an die Zustimmung des höchsten Gerichtshofs oder des Landtags. Was ferner die viel erörterte Frage anbetrifft, ob ein Verurteilter auch gegen seinen Willen begnadigt werden könne, so dürfte dieselbe wohl zu bejahen sein, da die Begnadigung kein Akt der Willkür, sondern ein Akt der höhern Gerechtigkeit sein soll, welchem sich der einzelne nicht beliebig entziehen kann. Nur in Ansehung der Abolition könnte es für einen Unschuldigen geradezu eine Härte sein, wenn er auch gegen seinen Willen eine solche Begnadigung annehmen müßte; er hat vielmehr ein Recht, zu verlangen, daß seine Unschuld durch Urteil und Recht dargethan werde, und ebendarum würde er eine solche Begnadigung gegen seinen Willen ablehnen können.
Die norwegische Verfassung statuiert ganz allgemein die Zurückweisung einer Begnadigung seitens des gegen seinen Willen Begnadigten. Endlich ist noch darauf hinzuweisen, daß die privatrechtlichen Folgen eines Verbrechens, z. B. die Verpflichtung zum Schadenersatz, durch eine Begnadigung nicht verändert oder aufgehoben werden.
Vgl. außer den Lehrbüchern des Staatsrechts und des Strafrechts: Lueder, Das Souveränitätsrecht der Begnadigung (Leipz. 1860);
v. Arnold, Über Umfang und Anwendung des Begnadigungsrechts (Erlang. 1860);
R. v. Mohl, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 2, S. 634 ff. (Tübing. 1869);