Descartes
(spr. däkart), René, gewöhnlich Renatus Cartesius genannt, der Begründer der neuern Philosophie und der scharfsinnigste Denker der Franzosen, geb. zu La Haye in Touraine als Sohn eines Parlamentsrats, zeigte früh eine ungemeine Lebhaftigkeit des Geistes, kam im achten Jahr ins Jesuitenkollegium zu La Flèche, wo ihm die Mathematik die meiste Befriedigung gewährte. Um Erfahrungen zu sammeln, nahm er, 21 Jahre alt, Kriegsdienste und machte unter Moritz von Oranien und Tilly Kriegszüge in Holland und Deutschland [* 3] mit, focht in der Schlacht am Weißen Berg unter Buquoy gegen die Böhmen [* 4] und unter demselben Heerführer in Ungarn [* 5] gegen die Türken, beschäftigte sich aber im stillen eifrigst mit wissenschaftlichen Arbeiten, deren erste, »De musica«, vor Breda verfaßt ward.
Den Entschluß aber, allen Vorurteilen zu entsagen und auf sichern und unzweifelhaften Grundlagen alles von neuem durch selbständige Forschung aufzubauen, faßte er in dem einsamen Winterlager vor Neuburg [* 6] (1619). Nachdem er zu diesem Zweck 1624 seinen Abschied genommen, widmete er sich eine Zeitlang in Paris [* 7] mathematischen Studien, die ihm bald Ruf verschafften, ging aber, um völlige Muße zur Ausarbeitung seines Systems zu finden, 1629 nach Holland, wo er 20 Jahre in Verborgenheit und beständig seinen Aufenthaltsort wechselnd, mit Ausnahme kurzer Reisen nach Deutschland, England und Dänemark, [* 8] fast ununterbrochen verweilte.
Während dieser Zeit verfaßte er die meisten und bedeutendsten seiner Werke, von denen er jedoch diejenigen, durch welche er mit der Geistlichkeit in Konflikt gekommen, wie die Schrift »De mundo«, lange zurückhielt, fand alsbald Anhänger und erbitterte Gegner, wurde von dem auf ihn aufmerksam gewordenen Kardinal Richelieu nach Frankreich, von der gelehrten Königin Christine (1649) nach Schweden [* 9] eingeladen, um ihr bei dem Plan der Stiftung einer Akademie der Wissenschaften behilflich zu sein. Letzten Ruf nahm er an, starb aber an den Folgen des ungewohnten nordischen Klimas schon in Stockholm, [* 10] von wo seine Leiche 1661 nach Paris gebracht und in der Kirche Ste.-Geneviève du Mont beigesetzt wurde.
Ungeachtet Descartes
durch seine mathematischen und physikalischen
Entdeckungen, insbesondere durch das von ihm aufgestellte
Gesetz
der
Trägheit, einer der
Väter der neuern
Physik geworden ist, so galt ihm doch nicht, wie seinem Zeitgenossen
Bacon, die äußere, sondern die innere
Erfahrung als der Ausgangspunkt unsers
Wissens. Die Ergebnisse der sinnlichen
Erfahrung
sind, wie die
Thatsache der
Sinnestäuschungen lehrt, dem
Zweifel unterworfen; der Anfang der Forschung aber kann nach ihm nur
ein Unbezweifelbares und zwar ein solches, aus dem sich ein weiteres folgern läßt, d. h.
ein wirkliches
Prinzip, sein.
Ein solches aber ist der Satz: Ich denke, also bin ich (cogito, ergo sum);
denn an der Thatsache, daß ich zweifle, d. h. denke, wäre auch dann kein Zweifel möglich, wenn alles, was ich denke, zweifelhaft wäre;
aus dieser Thatsache aber folgt unmittelbar und ohne Schatten [* 11] von Ungewißheit, daß ich bin, d. h. als denkendes Wesen bin;
ob auch noch als körperliches etc., bleibt vorläufig dahingestellt.
Das einzige Sein, dessen ich völlig gewiß bin, ist mein eignes, d. h. das Sein meines Geistes und seiner Gedanken, während das Sein der gesamten Körperwelt (auch meines eignen Leibes) ungewiß bleibt. Daß letztere ist, kann ich nur wissen, indem ich sie denke, d. h. eine Vorstellung von ihr habe; ob diese aber Erkenntnis oder bloße Einbildung sei, hängt von dem Grade der Verläßlichkeit ab, der meinen Gedanken selbst innewohnt. Fände sich unter den letztern eine Vorstellung, die ihrer ganzen Beschaffenheit nach so geartet ist, daß ich sie mir nicht selbst gegeben oder gemacht haben kann, sondern daß sie notwendig mir gegeben, d. h. von mir empfangen (bei der Geburt schon mitgebracht), worden sein muß, so wäre die Existenz dieses Gebers ebenso notwendig gewiß wie meine eigne.
Eine solche aber ist die Idee Gottes, d. h. eines vollkommensten Wesens, eines unbeschränkten Seins, welche, da ein solches dem Gefühl der Beschränktheit meines eignen Seins gerade entgegengesetzt ist, nicht von mir selbst herrühren kann und, da sie sich in meinem Bewußtsein findet, demselben angeboren sein, d. h. von Gott selbst in mir verursacht, deren Existenz in mir daher der unumstößliche Beweis für die Existenz ihres Gegenstandes (der Gottheit) außer mir sein muß.
Durch diese dem Descartes
eigentümliche Wendung des ursprünglich von Anselmus von
Canterbury gebrauchten ontologischen
Beweises
für das Dasein
Gottes ist neben meinem eignen das
Sein
Gottes, durch dieses aber sofort auch das
Sein der von
meinem
Geist verschiedenen Körperwelt für mich gewiß. Denn da die
Vorstellung der letztern; d. h. der äußern
Welt und
Natur,
in meinem
Geist vorhanden und zwar so unvermeidlich vorhanden ist, daß ich, auch wenn ich wollte, mich derselben nicht zu
entschlagen vermöchte, so könnte dieselbe, wenn sie trotzdem nur Täuschung sein sollte, nur das Werk
eines überlegenen, absichtlich täuschen wollenden
Dämons sein, d. h. die
Gottheit selbst müßte Urheberin dieser absichtsvollen
Täuschung sein. Da eine solche mit der
Idee eines vollkommensten, also durchaus wahrheitsliebenden
Wesens unvereinbar ist,
so folgt, daß die äußere
Welt, d. h. daß alles dasjenige wirklich existiert, was wir nach Anleitung
unsrer
Sinne als das Ausgedehnte mit
Klarheit und Deutlichkeit uns vorstellen, und daß es die Eigentümlichkeiten wirklich
besitzt, welche wir in solchen
Vorstellungen an ihm erkennen.
Dieses Ausgedehnte heißt Körper oder Materie. Bei sorgfältiger Reflexion [* 12] über den Begriff des Körpers finden wir, daß die Natur der Materie nicht in der Härte, Schwere, Färbung oder sonst in einer sinnenfälligen Eigenschaft besteht, da jede solche Eigenschaft von dem Körper hinweggedacht werden kann, ohne daß hierdurch sein Wesen für unser Vorstellen zerstört wird, sondern lediglich in der Ausdehnung. [* 13] Diese allein, die als solche der Rechnung unterworfen werden kann, bildet nicht nur die Grundlage der Geometrie, sondern auch der Physik.
Dadurch, daß der
Körper
Ausdehnung hat, die
Seele aber keine, ist zwischen beiden eine diametrale
Differenz gesetzt, die zur
Folge hat, daß, während der
Körper zerstört werden kann, die
Seele unverwüstlich, d. h. unsterblich, ist. Beide
Substanzen,
Körper und
Seele, deren Sitz Descartes
in die
Zirbeldrüse als das einzige unpaarige
Organ im
Gehirn
[* 14] verlegte, würden
nun aber als direkt einander entgegengesetzt völlig beziehungslos aufeinander bleiben, die
Seele würde nicht auf den
Körper,
dieser nicht auf jene einwirken, wenn nicht Gott, von dem beide unbedingt abhängig sind, auch beide durchdränge und so
die angemessene Übereinstimmung zwischen ihnen herstellte, immer schaffend und vermittelnd, eine Behauptung,
welche seinen
Schüler
Geulings (s. d.) auf die
Hypothese des
Okkasionalismus (s. d.) leitete.
Da D. das
Wesen der
Seele bloß im
sich selbst bewußten
Denken erkannte, so sprach
er den
Tieren eine solche ab und bezeichnete sie als belebte
Maschinen, ein
Wort, das häufig ganz grobsinnlich mißverstanden worden ist. Descartes
vollzog eine entscheidende
¶
mehr
That, indem er als erste Bedingung von Philosophie aussprach, daß sie alle gegebene Erkenntnis, jede Voraussetzung von sich zu weisen habe (Cartesianischer Zweifel), um aus dem schlechthin Gewissen durch Denken die Welt der Wahrheit völlig neu sich aufzubauen und nichts gelten zu lassen, als was in diesem Wiederherstellungsprozeß die Probe gehalten habe. Von dem festen Punkte, den ihm das Selbstbewußtsein gewährt, ausgehend, ist er Vater der nachfolgenden Philosophien geworden und hat durch die Originalität und Selbständigkeit, durch die Klarheit und Einfachheit seines Gedankenganges und durch die Leichtigkeit und Natürlichkeit seiner Darstellung großen Einfluß geübt.
Sein System erregte lebhaften Widerspruch bei Philosophen, insbesondere aber bei Theologen. Hobbes, Gassendi,
Huet, Daniel Voetius, Schook, der Jesuit Valois u. a. traten als Descartes'
Gegner auf, verfolgten ihn zum Teil fanatisch,
klagten ihn des Skeptizismus und Atheismus an und erwirkten sogar in manchen Ländern, wie in Italien
[* 16] 1643, in Holland durch die
Dordrechter Synode 1656, Verbote gegen seine Philosophie als eine gefährliche. Dagegen fand Descartes
Anhänger
in Holland und Frankreich (besonders unter den Jansenisten von Port-Royal und den Mitgliedern der Congrégation de l'Oratoire).
Vornehmlich suchten De la Forge, Clerselier, Rochault, Regis, Arnauld, Pascal, Malebranche, Geulings u. a. sein System zu verbessern
und weiter zu entwickeln.
Um die physiologische und psychologische Anthropologie hat sich Descartes
trotz mehrerer Irrtümer manche Verdienste
erworben; doch größerer und dauernderer Ruhm gebührt ihm als Mathematiker, als welcher er sich auch selbst seinen philosophischen
und theologischen Gegnern gegenüber stets in einer ehrfurchtgebietenden Superiorität behauptete. Er ward der Schöpfer
der analytischen Geometrie, erkannte zuerst die wahre Bedeutung der negativen Wurzeln der Gleichungen, fand
die Anzahl der positiven und der negativen Wurzeln in den Abwechselungen der Zeichen für die Glieder
[* 17] jeder Gleichung, gab eine
neue und sinnreiche Auflösung der Gleichungen des vierten Grades, führte zuerst die Exponenten ein und legte dadurch den Grund
zur Rechnung mit Potenzen, lehrte, wie man an jeden Punkt einer geometrischen Kurve, mit Ausnahme der mechanischen
oder transcendenten, Tangenten und Normalen ziehen kann, und zeigte, was vielleicht sein Hauptverdienst ist, wie man die Natur
und Eigenschaft jeder Kurve durch eine Gleichung zwischen zwei veränderlichen Koordinaten
[* 18] ausdrücken kann, wodurch er der Geometrie
eine neue Bahn eröffnete, auf der die schönsten Entdeckungen gemacht worden sind.
Seine »Géométrie« (1637),
welche Schooten mit einem trefflichen Kommentar begleitete (Leid. 1649),
und seine »Dioptrique« (1639), welche zuerst das von Snellius entdeckte Gesetz der Brechung der [* 19] Lichtstrahlen, die aus einem Mittel in ein andres übergehen, darlegte und die großen Entdeckungen von Newton und Leibniz vorbereitete, sind ein bleibendes Denkmal des großen Verdienstes, welches er sich um die physikalischen Wissenschaften erworben hat. Die nach ihm benannten Cartesianischen Teufel sind, gegen jene Entdeckungen gehalten, in der That nur Spielereien zu nennen. In seinen kosmogonischen Versuchen wollte er, ähnlich wie Demokrit und dessen atomistische Nachfolger, die Bewegung der Himmelskörper durch Wirbel erklären, welche in Strömungen des das Weltall erfüllenden Äthers bestehen sollten, eine Theorie, die, so großes Aufsehen sie auch im 17. Jahrh. machte, jetzt unter die Kuriosa gezählt wird.
Descartes'
Hauptschriften sind: »Discours de la méthode pour bien conduire la raison et chercher la vérité
dans les sciences« (zugleich mit seinen Abhandlungen über die Dioptrik, die Meteore und die Geometrie, Leid. 1637; lat. 1644);
»Meditationes de prima philosophia etc.« (Amsterd. 1641; hrsg. von Barach, Wien [* 20] 1862);
»Principia philosophiae« (Amsterd. 1644);
»Traité des passions« (das. 1650; lat., das. 1656);
»Traité de l'homme et de la formation du foetus« (das. 1668, lat. 1677).
In mehrfacher Hinsicht lehrreich ist auch die Sammlung seiner Briefe (Frankf. a. M. 1692). Eine Ausgabe seiner
sämtlichen Werke in lateinischer Sprache
[* 21] erschien zuerst Amsterdam
[* 22] 1670 bis 1683 und daselbst 1692-1701; in französischer
Sprache herausgegeben von V. Cousin (Par. 1824-1826, 11 Bde.)
und von Aimé-Martin in 1 Band
[* 23] (1881). Von Foucher de Careil sind »Œuvres inédites de Descartes«
(Par. 1859-60)
und »Descartes
, la princesse Elisabeth et la reine Christine, d'après des lettres inédites« (1879) veröffentlicht worden.
Seine nur beiläufig in seinen Schriften (besonders in dem nicht bloß von den Affekten und Leidenschaften,
sondern von jeder Gattung Gefühle, Neigungen und Empfindungen handelnden Buch »De passionibus«) geäußerten Ideen über die praktische
Philosophie haben mehrere seiner Schüler in besondern Werken gesammelt. Das vorzüglichste darunter ist: »Ethica
cartesiana s. ars bene beateque vivendi ad clarissimas rationes et sanae mentis ideas ac solidissima Ren. Cartes. principia formata«
(Halle
[* 24] 1719, franz. 1692). Deutsche
[* 25] Übersetzungen von philosophischen Hauptschriften
des Descartes
haben K. Fischer (Mannh. 1863) und v. Kirchmann (Berl. 1870, 4 Tle.) veranstaltet. Sein Leben beschrieben Tepelius (Nürnb.
1674), Bayle (Amsterd. 1681) und Baillet (Par. 1691).
Vgl. außer der anziehenden Schilderung Kuno Fischers in seiner »Geschichte
der neuern Philosophie«, Bd. 1 (3. Aufl.,
Münch. 1878): Millet, Descartes
, sa vie, ses travaux, ses découvertes avant 1637 (das. 1867);
Derselbe, Descartes
etc. depuis 1637 (das.
1871);
Bouillier, Histoire et critique du Cartésianisme (das. 1842);
Derselbe, Histoire de la philosophie cartésienne (3. Aufl., das. 1868);
Hock, Cartesius und seine Gegner (Wien 1835);
Löwe, Das System des Descartes
(das. 1867);
Schmid
aus Schwarzenberg, René Descartes
und seine Reform der Philosophie (Nördling. 1859);
Bertrand de Saint-Germain, Descartes
considéré comme
physiologiste et comme médecin (Par. 1869);
Koch, Die Psychologie Descartes'
(Münch. 1881);
Natorp, Descartes'
Erkenntnistheorie (Marb.
1882).