Individuum
(lat.), eigentlich »ein Ding, das nicht geteilt werden kann«, ohne aufzuhören, das zu sein, was es vorher war, daher ein für sich bestehendes organisiertes Wesen, an dem jeder einzelne Teil integrierend zum Ganzen gehört. In einem prägnantern Sinn ist das J. ein Wesen, dem eine eigentümliche geistige Beschaffenheit und Kraft [* 2] zukommt, wodurch es sich von jedem andern Wesen seiner Gattung unterscheidet. Der Inbegriff der Merkmale, wodurch sich ein Wesen als I. zu erkennen gibt, ist die Individualität. Je vielfältigern Bestimmungen eine Klasse von Dingen zugänglich ist, desto reicher entfaltet sich innerhalb derselben die Individualität; am mannigfaltigsten tritt sie da auf, wo das geistige Leben einer selbständigen Entwickelung entgegengeführt wird, mehr unter den höhern als unter den niedern Tiergattungen und am meisten unter den Menschen, wo sie wieder in den höhern Lebenssphären vielgestalteter auftritt als unter der unkultivierten Menge.
Mangel einer scharf hervortretenden Individualität gilt daher als Zeichen mittelmäßiger oder gewöhnlicher (genereller) geistiger Befähigung. Im Mittelalter bildete die Untersuchung über das Prinzip der Individualität (principium individuationis) den Angelpunkt, um welchen sich der Streit zwischen Nominalismus und Realismus bewegte (s. Scholastiker). Das Individuelle ist Gegenstand der Anschauung und kann nur durch diese erkannt werden; umgekehrt kann ein Gegenstand auch nur zur Anschaulichkeit gebracht (anschaulich gemacht) werden, wenn man ihn individualisiert. Daher müssen die Künste nicht bloß idealisieren, sondern auch individualisieren weil ihre Produkte Objekte der Anschauung und (wie in der Rede, im Gedicht) des unmittelbaren Gefühls werden sollen.
Besonders schwierig ist die
Definition des Individuums
im naturhistorischen
Sinn. Da die auf ungeschlechtlichem Weg durch Propfen,
Stecklinge etc. erzeugten jungen
Pflanzen die
Individualität der Stammpflanze völlig bewahren, so wollten
Gallesio und später Coulay nur die auf geschlechtlichem Weg erzeugten Lebewesen als I. gelten lassen, und man kam zu der
Absurdität, sämtliche durch
Stecklinge von Einem
Baum herleitbare
Exemplare, wie z. B. alle Trauerweiden
Europas, oder die
Tausende der in mehreren
Generationen ungeschlechtlich erzeugten
Blattläuse zu einem einzigen teilbaren
I. (eine contradictio in adjecto) rechnen zu müssen.
Praktischer erschien die
Ansicht von de la Hire und dem ältern
Darwin, daß die
Pflanze in den meisten
Fällen, einem Korallenstock
gleich, als ein zusammengesetztes I. anzusehen sei und jeder letzte
Sproß das eigentliche I. darstelle. Diese
Konsequenz führte weiter, und da jedes
Internodium sämtliche
Elementarorgane
(Achse,
Blatt,
[* 3]
Blüte,
[* 4]
Wurzel)
[* 5] besitzt oder reproduzieren
kann, so sahen
Agardh und Gaudichaud jedes einzelne
Internodium,
Schultz-Schultzenstein jeden aus
Zellen,
Gefäßen und
Oberhaut
bestehenden Pflanzenteil
(Anaphyton), der fähig ist, eine neue
Pflanze hervorzubringen, als das eigentliche Pflanzenindividuum
an. Nach
Entdeckung der
Zelle
[* 6] als
Elementarorgan der
Pflanzen und
Tiere wurde diese von
Schleiden und
Turpin
als das eigentliche I. angesehen; ja, einige sind noch weiter gegangen und haben die die
Zellen aufbauenden kleinsten Teile
des
Protoplasmas als eigentliche
Träger
[* 7] der
Individualität ansehen wollen.
Noch schwieriger lag der Fall bei den Tieren. Denn erstens gibt es zusammengesetzte Tiere, die z. B. bei den Röhrenquallen aus zuweilen mehr als fünf verschiedenartigen Einzeltieren bestehen, von denen jedes, einem Organ vergleichbar, verschiedene Funktionen erfüllt. Hier kann offenbar nur das zusammengesetzte Tier in seiner Gesamtheit, der Stock (Cormus), als I. gelten. Ein ähnlicher Fall liegt bei den Seesternen und den Gliedertieren vor, wo ein einzelner Strahl (Antimer) oder ein einzelnes Querstück (Metamer) für sich fortleben und das Tier zeitweise repräsentieren kann, z. B. die Gliedstücke der Bandwürmer.
Der abgerissene
Strahl eines Seesterns ergänzt sich sogar durch Hervortreiben von 4-5 neuen
Strahlen wieder zu einem vollständigen
Seestern. Eine ähnliche Selbständigkeit besitzen bei manchen
Tieren einzelne
Organe, z. B. das frei umherschwimmende
männliche
Organ (Hectocotylus) einzelner
Cephalopoden. Dazu kommt, daß viele
Tiere eine komplizierte
Metamorphose durchmachen,
deren einzelne oft sehr verschiedene
Phasen in den
Begriff des Individuums
aufgenommen zu werden Anspruch haben.
Häckel hat sich daher in neuerer Zeit genötigt gesehen, verschiedenartige Individualitätsbegriffe
einzuführen, vor allem das morphologische I.
(Morphon) von dem physiologischen I.
(Bion) zu trennen und außerdem sechs verschiedene
Kategorien von Individuen aufzustellen, die er als Individuen 1.-6.
Ordnung
(Plastide,
Organ,
Antimer,
Metamer,
Person und
Cormus)
unterscheidet.
Alle diese Schwierigkeiten sind natürlich nur daraus entstanden, daß man den abstrakten
Begriff
des unteilbaren menschlichen Individuums
auf die Vielseitigkeit der
Pflanzen- und Tierwelt anwenden wollte.
Vgl. A. Braun, Das I. der Pflanze (Berl. 1853);
Häckel, Über die Individualität des Tierkörpers (Jena [* 8] 1878);
Fisch, Aufzählung und Kritik der verschiedenen Ansichten über das pflanzliche I. (Rostock [* 9] 1880).