Titel
Kirchenges
chichte,
die wissenschaftliche Darstellung der Entstehung und Entwickelung der christlichen Kirche. Sie zerfällt nach dem zu behandelnden Stoff in eine äußere, welche die Ausbreitung der Kirche und deren Verhältnis zum Staat behandelt, und eine innere, welche die Kirchenlehre, den Kultus, die Kirchenverfassung und das kirchliche Leben berücksichtigt. Hinsichtlich ihrer Zeitepochen teilt man die in alte, mittlere und neuere. Die Grenzscheide zwischen der alten und mittlern Geschichte der Kirche ist ¶
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im allgemeinen zu bezeichnen durch den Übergang des Schwerpunkts der Entwickelung von der alten klassisch gebildeten Welt auf
die neuen Völkerströme germanischer und slawischer Abstammung. Den Anfangspunkt der neuern Kirchenges
chichte bezeichnet
die Reformation, an deren Stelle die neuern katholischen Kirchenges
chichtschreiber den Humanismus oder die Entdeckung Amerikas
setzen. Will man diese Zeitalter wieder in Perioden abteilen, so bietet sich ungesucht je eine Zweiteilung
dar: für die alte Zeit durch den vollendeten Sieg des Christentums über das griechische Heidentum unter Konstantin d. Gr.,
für die mittlere durch den Höhepunkt der Papstgewalt unter Innocenz III. und für die neuere Zeit durch die reichsgesetzliche
Anerkennung und Feststellung des Protestantismus im Westfälischen Frieden. Die Geschichte der Gründung des
Christentums durch Christus und die Apostel pflegt man als Leben Jesu und Geschichte des apostolischen Zeitalters selbständig
zu behandeln. Der geschichtlichen Darstellung aller dieser Zeitalter wird aber vorangehen müssen die Vorgeschichte der christlichen
Kirche, welche die Alte Welt in ihren Beziehungen zum entstehenden Christentum zum Verständnis zu bringen
hat (s. Kirche, geschichtliche Entwickelung).
Die Quellen der Kirchenges
chichte zerfallen in zwei Hauptgruppen:
1) Quellen, die selbst ein Stück Geschichte sind: a) Urkunden, z. B. die Dekretalen, Konstitutionen, Bullen, Breven der Päpste, die Hirtenbriefe der Bischöfe, die Akten (Kanones und Dogmata) der Kirchenversammlungen, die auf kirchliche Angelegenheiten bezüglichen Staatsgesetze (Kapitularien), Friedensschlüsse, Reichstagsakten, ferner die Briefe der geistlichen oder weltlichen Persönlichkeiten, welche die kirchliche Entwickelung beeinflußt haben, schließlich auf dem Gebiet des Dogmas, des Kultus und der kirchlichen Sitte die Symbole, die Schriften der Kirchenlehrer, Predigten, Liturgien, Agenden, Kirchenordnungen, Ordnungsregeln etc.; b) kirchliche Gebäude, Geräte, Gemälde, Skulpturen etc.
2) Quellen, welche Geschichte überliefern: a) Quellen, welche, indem sie praktische Ziele in der Kirche verfolgen, unabsichtlich Geschichte überliefern, wie z. B. Kalendarien, Martyrologien und Nekrologien; b) Quellen, die absichtlich Geschichte in irgend welcher Form überliefern wollen, z. B. Legenden, Annalen, Chroniken etc.
Der älteste Kirchenges
chichtschreiber, dessen Werk wir haben, ist Eusebios von Cäsarea (s. d.), der um 325 schrieb,
jedoch schon das für uns verloren gegangene Werk des Hegesippos (s. d.) benutzte. An ihn schließen sich als Fortsetzer in
griechischer Sprache
[* 3] an: Sokrates (bis 439), Sozomenos (bis 423), Theodoretos (bis 428), Philostorgios (bis 425), Theodoros (bis
527) und Evagrios (bis 594). In der lateinischen Kirche verfaßte der gallische Presbyter Sulpicius Severus
seine »Historia sacra« (bis 400);
Rufinus (s. d.) übersetzte die Kirchenges
chichte des Eusebios und setzte sie bis 395 fort;
Paulus Orosius
(s. d.) verfaßte »Historiarum libri
VIII«, die auch die Kirchengeschichte
bis 416 enthalten;
Cassiodorus (s. d.) faßte in seiner »Historia tripartita« die Werke des Sokrates, Sozomenos und Theodoretos in ein Ganzes zusammen;
dieses Werk war für das Mittelalter die Hauptquelle kirchenhistorischer Kenntnis.
Von Hieronymus (s. d.) wurde die bis 325 reichende Chronik des Eusebios von Cäsarea übersetzt und bis 378 fortgesetzt;
an ihn schlossen sich wieder die Chroniken des Prosper von Aquitanien, Idacius und Marcellinus an. Im Mittelalter
wurde vornehmlich der unerschöpfliche Vorrat von Heiligengeschichten und
Legenden zusammengetragen; Beiträge zur Kirchengeschichte
von
größerm Wert lieferten die Annalisten und Chronikenschreiber. In der abendländischen Kirche sind zu nennen: Gregor von Tours
(s. d.), Beda Venerabilis (s. d.), Haymo, Bischof von Halberstadt,
[* 4] Anastasius von Rom
[* 5] (s. d.), Adam von Bremen
(s. d.) und Ordericus Vitalis (gestorben als Mönch in der Normandie nach 1142). Vielfach fand die Papstgeschichte Behandlung
von seiten der Kardinäle Petrus Pisanus, Pandulf und Boso (alle im 12. Jahrh.); die »Chronica summorum
pontificum imperatorumque« des Martinus Polonus (gest. 1279) war, obwohl eine ganz oberflächliche
Kompilation, das verbreitetste Geschichtsbuch des Mittelalters. Den gleichen Zweck, die Kaisergeschichte sowie die Papstgeschichte
dem Gregorianischen Papalsystem gemäß darzustellen, verfolgt der Dominikaner Tolomeo von Lucca
[* 6] (Ptolemäus de Fiadonibus,
gest. 1327) in seinen »24 Büchern der Kirchengeschichte«
bis 1313. Alle die genannten Schriftsteller wie auch die Verfasser der zahllosen
Annalenwerke haben keinen Begriff von Entwickelung und geschichtlichem Werden.
Die Kirche ist ihnen etwas schlechthin Göttliches, von Anfang an Fertiges; nur ihre äußere Gestalt wechselt, und das Dogma
wächst quantitativ. Mit der Reformation, welche zu ihrer Begründung und Rechtfertigung der Geschichte nicht weniger als der
Schrift bedurfte, wurde der Geist eigentlicher kritischer Forschung und wissenschaftlicher Behandlung der
Kirchengeschichte
geweckt und belebt. So brachte ein Verein lutherischer Theologen, an deren Spitze Matthias Flacius (s. d.) stand, ein großartiges
kirchenhistorisches Werk in 13 Folianten zu stande, die sogen. Magdeburgischen Centurien (1559-74), welche allerdings das Unmögliche
versuchten, das lutherische Dogma in die Zeit der Kirchenväter zu verpflanzen, im übrigen aber das kirchenhistorische
Material vervollständigten und mit scharfer Kritik die Gewebe
[* 7] kurialistischer Geschichtsfälschung zerstörten.
Ihnen stellte der katholische Theolog Cäsar Baronius (s. d.) in seinen Annalen ein durch Mitteilung unbekannter, aus dem Archiv des Vatikans ausgewählter Urkunden wichtiges Werk entgegen. Den Centurien ähnliche Parteischriften lieferten für die reformierte Kirche J. H. ^[Johann Heinrich] Hottinger (s. d.), Friedrich Spanheim (s. d.), Samuel und Jakob Basnage (s. d.). Wichtiger war, daß selbst der Franziskanermönch Pagi (s. d.) gegen Baronius in die Schranken trat.
Jetzt bemächtigten sich die gelehrten Mönchsorden in Frankreich der Kirchengeschichte
und lieferten riesenhafte Materialiensammlungen, wie
der Dominikaner Alexander Natalis (Par. 1677-86, 24 Bde.),
an den sich Claude Fleury (s. d.), Bossuet (s. d.) und der Jansenist Tillemont (s. d.) anreihen. Von den neuern französischen
Bearbeitungen der allgemeinen Kirchengeschichte
sind besonders zu erwähnen: Henrion, Histoire ecclésiastique depuis la création jusqu'au
pontificat de Pie IX (hrsg. von Migne, Par. 1852 ff., 25 Bde.),
und Rohrbacher, Histoire universelle de l'église catholique (das. 1842-48 u.
öfter, 29 Bde.).
Nach dem Vorgang der Centurien und des Auszugs daraus von Lukas Osiander begnügte man sich lange in der protestantischen Kirche,
die Kirchengeschichte
nur zu polemischen Zwecken auszubeuten oder sie in trockne Register von Begebenheiten, Zahlen und Namen zu verwandeln.
Erst Georg Calixtus (s. d.) wies in einer Reihe von Abhandlungen auf das wissenschaftliche Interesse einer
unbefangenen Erforschung der Thatsachen hin, und Gottfried Arnold (s. d.) drehte die bisherige dogmatische Tendenz der Geschichtsbehandlung
um, indem er allenthalben der
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Kirche gegenüber das Recht der Ketzer und Irrlehrer verfocht. Natürlich rief diese pietistische Geschichtsbetrachtung eine
Menge Gegner in die Schranken, unter welchen Weismann (»Introductio in memorabilia eccl.«, Tübing. 1718, 2 Bde.), die beiden
Walch (s. d.) und Siegm. Jak. Baumgarten (s. d.) die namhaftesten sind. Auf einen wirklich objektiven Standpunkt,
den man als eine Versöhnung des orthodoxen und pietistischen Gegensatzes fassen kann, hat zuerst Johann
Lorenz v. Mosheim (s. d.) die Kirchengeschichte
erhoben, während Semler (s. d.) planlos und schwerfällig, aber als eigentlicher Vater der
Quellenkritik schrieb.
Auf dem hierdurch gewonnenen Standpunkt lieferte Johann Matthias Schröckh (s. d.) ein kirchengeschichtliches Riesenwerk. Die
mit ihm beginnende pragmatische Kirchengeschichtschreibung, welche sich nicht mit der Aneinanderreihung
der Thatsachen begnügt, sondern deren Werden aus den Motiven der Handelnden zu erklären sucht, fand einen weitern Vertreter
an L. T. Spittler (s. d.); H. Ph. Kirchengeschichte
Henke (s. d.) gab eine energische Kritik der Thatsachen, sah jedoch in der Kirchengeschichte
eigentlich
nur eine Geschichte religiöser Verirrungen; Stäudlin war in seiner »Universalgeschichte der Kirche« (5.
Aufl., Hannov. 1833) in Gefahr, den objektiv historischen Standpunkt einem allzu subjektiven Pragmatismus zu opfern, während
G. J. ^[Gottlieb Jakob] Planck (s. d.) in Göttingen
[* 9] durch die Befolgung der pragmatischen Methode ein tieferes Verständnis des
Entwickelungsganges der neuern Kirchengeschichte
ermöglichte. Von der pragmatischen Geschichtsauffassung
sich abwendend, wollte eine andre Richtung die Thatsachen feststellen und ohne subjektive Beimischung zur Darstellung bringen;
hierher gehören: J. ^[Johann] Ernst Christian Schmidt (»Handbuch der christlichen Kirchengeschichte«, Gießen
[* 10] 1801-20, 6 Bde.; 2. Aufl.,
1.-4. Bd., 1825-27; fortgesetzt von F. W. Rettberg, 7. Bd., das. 1834)
und Gieseler (s. d.), dessen kompendiöses, aber dennoch durch Mitteilung der
wesentlichsten Quellenauszüge umfangreiches Werk ein Muster besonnener wissenschaftlicher Forschung ist. In steiferer Form,
aber mit gleich umfassender Gründlichkeit wandelt in seinen Fußstapfen Niedner (s. d.). Als der eigentliche Vater der neuern
protestantischen Kirchengeschichte gilt aber Neander (s. d.). Seine Geschichtsbetrachtung ist indes mehr
erbaulicher als objektiv wissenschaftlicher Art, und sein oberster Satz, die Kirche sei übernatürlich in Bezug auf ihr Entstehen,
natürlich dagegen im Bestehen, ist selbst ein Dogma. Er ist stets darauf bedacht (die Kehrseite des die äußern Verhältnisse
zu sehr betonenden Pragmatismus), die innere Entwickelung der Kirche in Dogma, Kultus und Sitte zur Darstellung
zu bringen.
Den milden irenischen Geist Neanders atmet auch die Kirchengeschichte seines Schülers Kirchengeschichte R. Hagenbach (s. d.). An Neander und Gieseler schließen sich an die auf dem Gebiet der Kirchenverfassung und des kirchlichen Lebens neue Gesichtspunkte eröffnenden Vorlesungen Richard Rothes (s. d.) über Kirchengeschichte. Eigne Wege schlägt die konfessionelle Kirchengeschichtschreibung ein. Vertreter des orthodoxen Luthertums sind Guericke, H. Schmid, Lindner und Kurtz (s. diese Art.). Den reformierten Standpunkt vertritt J. J. ^[Johann Jakob] Herzog (s. d.) u. noch entschiedener als er Ebrard (s. d.). Unbekümmert um die Vorurteile konfessioneller Geschichtschreibung, angeweht vom Geist Hegelscher Philosophie, gibt Hasse ( Kirchengeschichte«, hrsg. von A. Köhler, 2. Aufl., Leipz. 1872) eine den innern Zusammenhang aufzeigende Darstellung.
Ebenfalls im Gegensatz zu der einreißenden Vermengung theologisch-religiöser und wissenschaftlicher Gesichtspunkte bietet Kirchengeschichte Hase [* 11] (s. d.) eine objektiv besonnene, geistreiche und frische Darstellung dar, die freilich zum Verständnis ihrer zahlreichen Andeutungen schon eine gewisse Vertrautheit mit dem Stoffe voraussetzt. Eine neue Epoche der Kirchengeschichtschreibung datiert von der Tübinger Schule, auch hier geführt von F. Ch. Baur (s. d.), welcher den Entwickelungsgang der christlichen Idee in großartigen, nur das Allgemeine zu sehr auf Kosten des Individuellen hervorhebenden Zügen beleuchtet hat. Eine »Zeitschrift für Kirchengeschichte« wird von Brieger (Gotha [* 12] 1876 ff.) herausgegeben.
Vgl. auch Weingarten, Zeittafeln zur Kirchengeschichte (2. Aufl., Leipz. 1874),
und die unserm Artikel »Kirche« beigegebene »Zeittafel«.
Auch in der katholischen Kirche haben sich neuerdings verschiedene Geistesrichtungen bei dem Ausbau der Kirchengeschichte beteiligt und zwar sowohl vom modern-spekulativen als vom ultramontanen Standpunkt aus. Ohne Schroffheit, aber auch ohne Kritik vertritt die ultramontane Geschichtschreibung Stolberg [* 13] (s. d.); eine durch ihre milde und tiefe Auffassung sowie geschmackvolle Darstellung ausgezeichnete Kirchengeschichte lieferte Katerkamp (Münst. 1819-34, 5 Bde.). Immer mehr brach sich auch hier Bahn eine wissenschaftlichere, von den Resultaten protestantischer Forschung nicht unbeeinflußte Richtung, als deren hauptsächliche Vertreter gelten: Ritter (»Handbuch der Kirchengeschichte«, 6. Aufl., Elberf. u. Bonn [* 14] 1862, 2 Bde.),
Locherer (»Geschichte der christlichen Religion und Kirche«, Ravensb. 1824-34, 9 Bde.), Döllinger, Möhler, Alzog und Franz Xaver Kraus (s. diese Art.). Dagegen hat Hergenröther (s. d.) seine umfassende Gelehrsamkeit ganz in den Dienst schroff-ultramontanen Geistes gestellt; Vertreter des gleichen Standpunktes ist Brück (»Lehrbuch der Kirchengeschichte«, 3. Aufl., Mainz [* 15] 1884).
Vgl. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtschreibung (Tübing. 1852).