Materialismus
(lat.) wird sowohl in theoretischem als in praktischem
Sinn gebraucht. In ersterm
bezeichnet Materialismus
denjenigen metaphysischen
Realismus (vgl.
Metaphysik), welcher als letzte Grundlage der gesamten Erscheinungswelt
die
»Materie« (s. d.), sei es als kontinuierliche körperliche
Masse (monistischer Materialismus
), sei es als
Aggregat diskreter, durch
leere Zwischenräume getrennter Körperteilchen (Korpuskel,
Moleküle,
Atome: atomistischer Materialismus
), betrachtet.
Durch die materielle
Beschaffenheit der realen Grundlage aller
Erscheinungen ist der Materialismus
vom
Spiritualismus
und
Dualismus, durch den
Realismus vom
Nihilismus und
Idealismus, durch den Umstand, daß diese (materielle) Grundlage der sinnlich
wahrnehmbaren
Erscheinungen selbst als solche
(Materie,
Atom) nicht sinnlich wahrgenommen wird, vom
Positivismus und Empirismus
(dem die sinnlichen
Erscheinungen
[Bewegungen ohne Bewegtes] für das letzte gelten) verschieden.
Folgerichtig schließt der Materialismus
die
Ewigkeit und Ungeschaffenheit seiner realen letzten Grundlage
(Materie,
Atome) ein und die
qualitative Unterschiedenheit der geistigen (psychischen) von den körperlichen (physischen)
Phänomenen (also auch die
Existenz
eines abgesonderten Seelenwesens) aus
(Geist als
Phänomen der
Materie, Gehirnphänomen).
Psychologie verwandelt sich in
Physiologie
und die gesetzliche
Weltordnung in die ausschließliche Herrschaft der (physikalischen, chemischen und
biologischen)
Naturgesetze, mit welcher nicht nur die zwecksetzende und durchführende Thätigkeit einer von außen in den
Gang
[* 3] der Naturordnung eingreifenden (transcendenten) oder den
Dingen selbst innewohnenden (immanenten)
Intelligenz
(Teleologie),
sondern nicht weniger die
Freiheit und Selbständigkeit des menschlichen
Willens (transcendentale
Freiheit)
unvereinbar ist. - Im praktischen
Sinn bezeichnet Materialismus
diejenige moralische
Denkungsart, welche den Wert (Unwert) des menschlichen
Wollens und
Handelns, dessen Erlaubtheit oder Unerlaubtheit,
Sittlichkeit oder Unsittlichkeit lediglich von den
Folgen desselben
für den Wollenden und Handelnden in diesem
Leben abhängig macht.
Letzterer Umstand unterscheidet die »materialis
tische« von der »materialen«
Ethik, welche zwar gleichfalls den Wert des
Wollens und
Thuns von den
Folgen (statt, wie die »formale«
Ethik [z. B.
Kants], von der
»gesetzlichen« oder [wie
Herbart] von der »wohlgefälligen« Form) desselben abhängig macht,
dieselben jedoch nicht auf dieses (irdische)
Leben beschränkt, sondern (wie die indische, christliche, mohammedanische
Ethik)
ausdrücklich auf ein künftiges
(Lohn und
Strafe im Jenseits, das für den Materialismus
nicht existiert)
Leben nach
dem
Tod ausdehnt.
Der praktische ist daher nicht nur aus dem Grund verwerflich, weil er sich nicht durch die Vorstellung des unbedingten Werts oder Unwerts der Handlungsweise, sondern durch die Vorstellung der vorteilhaften oder nachteiligen Folgen derselben für die eigne Person (Hoffnung auf Belohnung, Furcht vor Strafe), und noch ganz besonders darum, weil er sich nur durch die Rücksichtnahme auf die materiellen Folgen (Vermehrung oder Verminderung des eignen physischen Wohlseins) bestimmen läßt.
Der theoretische Materialismus
, der als Ergebnis philosophischen Nachdenkens auftritt, kann sowenig als
eine andre auf rein wissenschaftlichem Wege gewonnene Überzeugung
einem andern als einem aus rein wissenschaftlichen
Gründen
abgeleiteten
Tadel unterliegen. Derselbe ist die natürliche
Folge des Vertrauens in die ausschließliche Geltung und
Berechtigung
der
Erfahrung als Erkenntnisquelle, daher
Epochen hervorragenden Aufschwungs der
Erfahrungs- (insbesondere der
Natur-)
Wissenschaften
(im 18. Jahrh. in
Frankreich, in der Gegenwart in
Deutschland)
[* 4] von einer entsprechenden Verbreitung des
theoretischen Materialismus
begleitet zu sein pflegen. Da der theoretische Materialismus durch seine Verneinung
eines künftigen
Lebens derjenigen
Ethik, welche die
Sittlichkeit durch die Aussicht auf Belohnung oder Bestrafung im Jenseits
zu fördern sucht, den
Boden entzieht, kann derselbe (aber er muß nicht) den praktischen Materialismus
im
Gefolge
haben. Da jedoch der sittliche Wert menschlichen
Wollens nicht von den
Folgen (weder in jenem noch in diesem
Leben), sondern
allein von der Erfüllung der
Pflicht um der
Pflicht willen abhängt, so müssen theoretischer und praktischer
Idealismus einander
nicht unbedingt ausschließen. - Was die Geschichte des theoretischen Materialismus
betrifft,
so findet sich derselbe schon bei den
Indern in dem atomistischen
System der Waiseschika des
Kânâdâ, in der Geschichte der
griechischen
Philosophie in den (gleichfalls) atomistischen
Systemen des
Leukippos und
Demokritos, in dem durch Lukrez nach
Rom
[* 5] verpflanzten
Atomismus Epikurs und in der neuern Zeit bei dem Wiedererwecker desselben,
Gassendi, bei dem
Engländer
Hobbes, bei den französischen
Encyklopädisten
(Diderot,
Holbach, d'Alembert,
Helvetius) und
Ärzten
(Cabanis), endlich
nach dem
Schiffbruch der Schellingschen
Natur- und der spekulativen
Philosophie bei deutschen
Philosophen
(Feuerbach,
Strauß)
[* 6] und Naturforschern
(Vogt,
Moleschott). Die konsequentesten
Darstellungen desselben haben im
Altertum Lukrez,
im 18. Jahrh.
Holbachs (s. d.)
»Système de la nature«, die in der Gegenwart verbreitetste hat
Louis
Büchner
(»Kraft
[* 7] und
Stoff«,
Frankf. 1855; 15. Aufl., Leipz. 1883) geliefert.
Der praktische ist als gemeine und niedrige
Denkungsart zu allen
Zeiten häufig gewesen und durch den oft und mit
Recht beklagten
ausschweifenden
»Kultus der materiellen
Interessen« nicht sowohl herbeigeführt, als dieser vielmehr umgekehrt durch denselben
veranlaßt worden. Der theoretische ist von Theologen um seiner religiösen, von den
Philosophen andrer
Schulen hauptsächlich
um seiner psychologischen
Konsequenzen willen nicht immer wissenschaftlich kritisiert, der praktische Materialismus
von echten Moralphilosophen
stets nach
Gebühr verurteilt, dagegen von Weltleuten, Nationalökonomen und Interessenpolitikern oft
höchst unverdienterweise gepriesen worden.
Vgl.
Lange, Geschichte des Materialismus
(neueste Ausg., Iserl.
1887);
D. F. Strauß, Der alte und der neue Glaube (11. Aufl., Bonn [* 8] 1881).