Materĭe
(lat. materia), im allgemeinen gleichbedeutend mit
Stoff, also im
Gegensatz zur Form zunächst
das Sachliche, Gegenständliche, der
Inhalt im Unterschied von der Art und
Weise der
Erscheinung, Gestaltung, Behandlung der
Darstellung. In diesem
Sinn spricht man im gewöhnlichen
Leben von der Behandlung oder Bearbeitung einer bestimmten oder unterscheidet
die Form des Kunstwerks von seinem
Stoff. Im philosophischen (metaphysischen)
Sinn bezeichnet Materie
den
Grund-
und
Urstoff der Körperwelt, insofern er derselben gleichartig, d. h. selbst körperlich, und
daher wie diese ein Gegenstand (zwar nicht unmittelbarer, aber mittelbarer) sinnlicher
Erfahrung ist.
Folge davon ist, daß gewisse
Formen der
Metaphysik (s. d.), nämlich die nihilistische, welche gar keine
Realität, die
idealistische, welche das (unendliche oder endliche vorstellende)
Ich als einzige
Realität, die spiritualistische, welche
nur geistige
Realität, die Identitätslehre, welche
Geist und Materie
nur als verschiedene Auffassungsweisen
(»Attribute«,
Ansichten)
derselben
(an sich weder geistigen noch materiellen
)
Realität kennt, ebenso wie die Materie
des
Kritizismus, welcher die
Qualität
des
Realen (»des
Dinges an sich«) als unbekannt und unerkennbar (jedenfalls also nicht als Materie
) ansieht,
der Materie
die wahre
Realität absprechen und derselben höchstens den
»Schein« einer solchen als
»Attribut« der
Substanz, als
»Phänomen
des
Geistes«, als »verworrene
Vorstellung«, als
»Erscheinung des
Dinges [oder der
Dinge] an sich«) zugestehen.
Da dieser Auffassung zufolge die Materie
nichts Wesenhaftes, sondern ein bloßes »Scheinwesen«
(phaenomenon) ist, so läuft, mit alleiniger Ausnahme der
Erkenntnis dieser ihrer »Scheinnatur«, das ganze
Wissen von der Materie
(Physik)
auf
Wissen von »Scheinwesen« hinaus, das als solches mit »Scheinwissen«
identisch ist.
Andre
Formen der
Metaphysik, wie die dualistische, welche Materie
neben und außerdem
Geist als
Realität, die
materialistische, welche als einzige
Realität anerkennt, sowie die (empirische)
Physik; welche dieselbe als
Realität ansieht,
ohne die
Frage entscheiden zu wollen, ob es außer derselben noch eine andre gebe, sprechen derselben nicht bloß den
»Schein«
der
Realität, sondern wirkliche
Realität zu und betrachten das
Wissen von derselben als
Wissen von wahrem,
nicht »Schein«-Wesen, nicht als
Schein-, sondern als wirkliches
Wissen.
Aus diesen entgegengesetzten
Anschauungen von der Materie
erklärt es sich, warum die einen (die
Physiker, materialistischen und
dualistischen
Metaphysiker) die
Erklärung der verschiedenen (physikalischen, chemischen, biologischen)
Erscheinungen aus der
Materie
, die andern (die nihilistischen, idealistischen, spiritualistischen,
Identitäts- und kritischen
Metaphysiker)
die
Erklärung
des
Scheins der Materie
zu ihrer Aufgabe machen. Da nun der
Schein eines
Objekts jederzeit ein
Subjekt voraussetzt,
dem er »scheint«,
so ist die Aufgabe, welche die letztgenannten sich setzen, wesentlich eine psychologische, jene der erstgenannten dagegen
eine physikalische und physiologische.
Die als Realität kann aber entweder (mechanisch) als (toter) Stoff ohne (thätige) Kraft, [* 2] oder (dynamisch) als (thätige) Kraft ohne Stoff, oder (hylozoistisch) als Kraft und Stoff (»keine Kraft ohne Stoff, kein Stoff ohne Kraft«),
d. h. als kraftbegabter
Stoff, der
Stoff selbst aber kann entweder (monistisch) als (ins Unendliche teilbares und geteiltes) Kontinuum
oder (atomistisch) als aus letzten (nicht weiter geteilten oder nicht weiter teilbaren) und durch leere Zwischenräume getrennten
Elementarteilchen (Korpuskeln,
Molekülen, physikalischen oder chemischen
Atomen) zusammengesetztes Diskretum gedacht werden.
Die konstituierenden
Eigenschaften der Materie
aber können keine andern sein als diejenigen, welche allen
Körpern
ohne Unterschied zukommen.
Als eine solche betrachteten z. B. unter den Alten
Thales die
Feuchtigkeit,
Anaximenes die Luftartigkeit,
Heraklit die Veränderlichkeit,
Empedokles und
Anaxagoras die Zusammengesetztheit aus der
Beschaffenheit,
Leukippos und
Demokritos als solche aus der Gestalt
nach verschiedenen
Bestandteilen,
Platon das Nichtsein,
Aristoteles das Möglichsein,
Descartes und
Spinoza die
Ausdehnung,
[* 3] Newton die
Schwere etc. Die hylozoistische (monistische) Auffassung der Materie
bei den ionischen
Naturphilosophen machte bei
Anaxagoras,
Platon,
Aristoteles,
Descartes der (monistischen) mechanischen, bei
Newton und den französischen
Materialisten, die jedes Teilchen der als mit
Anziehungs- und Abstoßungskraft begabt ansahen, wieder der (atomistisch-) hylozoistischen,
bei
Kant und seinen idealistischen Nachfolgern
(Schelling,
Hegel) der dynamischen (monistischen) Auffassung
Platz, nach welcher Materie
das
Produkt in
Spannung versetzter entgegengesetzter
Kräfte sein sollte. Die moderne
Physik und der moderne
Materialismus sind zu der (atomistisch-) hylozoistischen
Hypothese kraftbegabter Elementarstoffteile zurückgekehrt. Vgl.
Dynamismus
und
Atomismus.
Die unter den heutigen Physikern und Chemikern verbreitetste
Anschauung über die
Konstitution der Materie
, wie
sie sich aus den atomistischen
Theorien von
Laplace,
Ampère, Poisson,
Cauchy,
Redtenbacher etc. vermöge der neuesten Fortschritte
der
Chemie und
Physik entwickelt hat, läßt sich etwa in folgender
Weise zusammenfassen. Die Materie
besteht aus sehr kleinen, physisch
nicht weiter teilbaren Teilchen oder
Atomen; jedes
Atom ist unveränderlich an
Masse,
Volumen und Gestalt;
es gibt so viele verschiedene
Arten von
Atomen, als es
chemische Elemente gibt.
Die Atome ziehen sich gegenseitig an, bei größerm Abstand nach dem umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernung (Gravitation), bei sehr kleinem Abstand in viel größerm Verhältnis; die letztere Anziehungskraft ist nur in unmeßbar kleiner Entfernung thätig, für größere Entfernungen wird sie unmerklich. Durch diese Anziehungskraft, welche chemische Anziehung oder Affinität genannt wird, werden die Atome zu gesetzmäßig aufgebauten Atomgruppen oder Molekülen verbunden, wogegen letztere durch die zwischen ihnen wirksame Anziehung (Kohäsion) zu einem Körper vereinigt werden. Bei physikalischen Vorgängen bleibt das Molekül unversehrt, während chemische Wirkungen in den Bau desselben verändernd eingreifen. Außer ¶
mehr
der Materie
muß zur Erklärung der Naturerscheinungen noch eine von ihr völlig verschiedene, den unendlichen Weltraum sowie die
Zwischenräume zwischen den materiellen
Atomen erfüllende Zwischensubstanz, der Äther, angenommen werden, dessen durchaus
gleichartige Atome sich gegenseitig abstoßen, von den materiellen
Atomen aber angezogen werden. Vermöge dieser letztern Anziehung
umgibt sich jedes materielle Atom und Molekül mit einer zu ihm gehörigen Ätherhülle.
Durch das Zusammenwirken der anziehenden und abstoßenden »Molekularkräfte« der und des Äthers wird in einem Körper, dessen Moleküle um weniger als den Durchmesser der »Wirkungssphäre« voneinander abstehen, jedem Molekül eine bestimmte Gleichgewichtslage vorgeschrieben, die es zu behaupten und nach jeder Störung wieder einzunehmen strebt. In diesem Zustand heißt der Körper fest. Die Moleküle eines festen Körpers sowie die Atome innerhalb seiner Moleküle würden jedoch nur dann in ihren Gleichgewichtslagen in Ruhe sein, wenn seine Temperatur diejenige des absoluten Nullpunktes (s. Wärme) [* 5] wäre.
Bei jeder höhern Temperatur befinden sie sich in schwingender Bewegung um ihre Gleichgewichtslagen, welche wir als Wärme empfinden. Bei der Erwärmung wird die Energie der Schwingungen erhöht und zugleich der mittlere Abstand der Moleküle vergrößert; wird der letztere dem Durchmesser der Wirkungssphäre gleich, so lassen sich die Moleküle mit Leichtigkeit gegeneinander verschieben, und der Körper ist in den flüssigen Zustand übergegangen. Bei noch höherer Erwärmung treten die Moleküle aus ihrem gegenseitigen Wirkungsbereich völlig heraus und durcheilen selbständig den dargebotenen Raum: der Körper hat alsdann den gasförmigen Zustand angenommen.
Die hiermit skizzierte Auffassungsweise stützt sich auf die drei Grundbegriffe Materie, Äther und Kraft. Es fragt sich aber, ob der Begriff des Äthers, in geeigneter Weise definiert, nicht denjenigen der Kraft bereits in sich schließt. Die dahin zielenden Spekulationen sind jedoch noch nicht zu einem solchen Abschluß gelangt, daß eine umfassende Erklärung der Naturerscheinungen auf sie gegründet werden könnte.
Vgl. Huber, Die Forschung nach der Materie (Leipz. 1877). -
In der Pathologie nennt man auch Materie den Eiter in Wunden, Geschwüren etc.