Mathematik
(v. griech. mathēma, »Wissenschaft«),
nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch die
Wissenschaft von den
Eigenschaften
der
Größen und den
Gesetzen ihrer
Verbindung, also
Größenlehre. Man unterscheidet reine und angewandte
Mathematik
, je nachdem man die
Größen
an sich oder in ihrer Anwendung auf andre
Wissenschaften und auf das praktische
Leben betrachtet.
Eigentümlich ist der reinen Mathematik
die in der
Natur ihrer
Begriffe und
Methoden begründete Sicherheit ihrer
Lehren,
[* 2] die jeden
Zweifel
und jede Ungewißheit ausschließt, weshalb man unter mathematischer
Gewißheit oder
Wahrheit sprichwörtlich
eine absolute, vollkommene versteht.
Zur reinen Mathematik
gehören die
Arithmetik im engern
Sinn (höhere
Arithmetik oder
Zahlentheorie) oder die
Lehre
[* 3] von den
Eigenschaften
der
Zahlen, die allgemeine
Arithmetik und
Algebra (s. d.), welche die
Gesetze der Zahlenverbindungen (des Rechnens) entwickeln,
die verschiedenen Teile der
Infinitesimalrechnung (s. d.) sowie die
Geometrie (s. d.) mit Einschluß der
mathematischen Bewegungslehre
(Phoronomie oder
Kinematik). Doch sind strenge
Systematiker geneigt, die
Geometrie der angewandten
Mathematik
zuzurechnen, weil unsre Kenntnis der Grundeigenschaften des
Raums der äußern
Erfahrung entnommen ist. Die angewandte Mathematik
teilt
Klügel
(»Mathematisches
Wörterbuch«, Bd. 3) in die physische und in die
technische. Zur erstern gehören die theoretische
Mechanik mit ihren Unterabteilungen
(Statik und
Dynamik fester, tropfbarflüssiger
and gasförmiger
Körper, als neuer
Zweig die
graphische Statik), die mathematische
Physik (mathematische
Akustik und
Optik,
¶
mehr
mechanische Wärmelehre, einzelne Teile der Lehre von der Elektrizität
[* 5] und vom Magnetismus),
[* 6] die Astronomie
[* 7] mit Chronologie und
Gnomonik, die mathematische Statistik und Psychologie, die Kristallographie. Die wichtigste Anwendung der Mathematik
in diesen Wissenschaften
besteht darin, daß man mit ihrer Hilfe die Hypothesen, durch welche man die Thatsachen der Erfahrung zu
erklären sucht, in alle ihre Konsequenzen verfolgt und damit auf ihre Stichhaltigkeit prüft.
Die technische angewandte Mathematik
hat es mit den Anwendungen der Mathematik auf das praktische Leben zu thun; sie umfaßt die praktische
(kaufmännische, juristische und politische) Arithmetik, die praktische Geometrie (Feldmeßkunst, Nivellieren, Markscheidekunst),
die praktische Mechanik und Maschinenlehre, die Hochbaukunst, die Straßen- und Eisenbahn-, Wasser- und Bergbaukunst,
die Kriegswissenschaften und die Nautik. Die ersten Anfänge einer wissenschaftlichen Behandlung der Mathematik
treffen wir bei Indern,
Chinesen, Chaldäern und Ägyptern.
Die Inder haben sich namentlich um Arithmetik und Algebra verdient gemacht, auch noch in späterer Zeit, wo Aryabhatta (um 500 n. Chr.), Brahmagupta (um 600) und Bascara Acharya (1150) zu nennen sind. Von dem mathematischen Wissen der Ägypter haben wir erst vor einigen Jahren durch den von Eisenlohr übersetzten Papyrus Rhind des Britischen Museums, ein unter der Herrschaft der Hyksos verfaßtes Lehrbuch, genauere Kunde erlangt. Von den Völkern des klassischen Altertums haben die Griechen vorzüglich die Geometrie zu hoher Blüte [* 8] entwickelt. Zu den ältesten griechischen Geometern zählen Thales, Pythagoras und Platon; die höchste Meisterschaft entwickelten Eukleides, Archimedes und Apollonios, neben denen noch Eratosthenes, Hipparchos, Konon, Nikomedes, Menelaos, [* 9] Ptolemäos, Serenos, Diokles, Proklos, Eutokios u. a., besonders aber Pappos zu erwähnen sind. Um Arithmetik und Algebra haben sich bei den Griechen besonders Eukleides, Nikomachos und Diophantos große Verdienste erworben (vgl. Nesselmann, Die Algebra der Griechen, Berl. 1842). Nur dürftig war das mathematische Wissen der Römer [* 10] (vgl. Cantor, Die römischen Agrimensoren, Leipz. 1876). In hoher Blüte standen aber die mathematischen Wissenschaften bei den Arabern, von denen sie, zum Teil durch Vermittelung jüdischer Gelehrten, der abendländischen Christenheit übermittelt wurden.
Von den Arabern erhielten die Abendländer auch durch Leonhard von Pisa
[* 11] (Fibonacci) um 1200 das indische (sogen. arabische) Zahlsystem.
Nach dem Wiederaufblühen der Wissenschaften erwarben sich besonders Purbach, Regiomontanus, Michael Stifel, Albrecht Dürer bei
den Deutschen, Ramus und Vieta bei den Franzosen, Pacioli, Tartaglia, Cardano, Bombelli bei den Italienern
Verdienste um die Förderung der Mathematik.
Aus dem 17. Jahrh. ist zunächst die Erfindung und Berechnung der Logarithmen durch Justus
Byrg, Lord Napier und Briggs zu erwähnen; ferner begegnen uns Kepler, Cavaleri, Roberval, Fermat, Pascal, Desargues, Descartes,
Wallis,
Huygens, Galilei; vor allen aber sind die Schöpfer der Infinitesimalrechnung, Newton und Leibniz, zu nennen.
Mit diesem neu gewonnenen Forschungsmittel wurden nachher durch die Bernoulli, Euler, Maclaurin, Taylor, Moivre, d'Alembert, Lagrange, Laplace, Legendre u. a. auf den verschiedensten Gebieten der Analysis und ihrer Anwendungen die glänzendsten Resultate erlangt; auch die Geometrie, die man über den analytischen Arbeiten ziemlich vernachlässigt hatte, gewann durch die Arbeiten von Stewart, Maclaurin, Lambert, Monge, Poncelet, Steiner, v. Staudt, Möbius einen neuen Aufschwung, und neue Methoden, deren Keime zum Teil in bis dahin nicht gewürdigten Sätzen der Alten liegen, gaben der rein geometrischen Forschung einen großen Teil der Allgemeinheit, welche man als ausschließliches Eigentum der Analysis betrachtet hatte.
Aber daneben wurden die Fortschritte der Analysis nicht aufgehalten, wie die Leistungen von Gauß, Jacobi und Abel, Cauchy, Dirichlet, Riemann, Clebsch u. a., zum Teil noch lebenden zeigen.
Vgl. Montucla, Histoire des mathématiques (Par. 1797-1802, 4 Bde.);
Bossut, Versuch einer allgemeinen Geschichte der (a. d. Franz. von Reimer, Hamb. 1804, 2 Bde.);
Suter, Geschichte der mathematischen Wissenschaften (Zürich [* 12] 1873-76, 2 Bde.);
Hankel, Zur Geschichte der Mathematik
im Altertum und Mittelalter (Leipz. 1874);
Gerhardt, Geschichte der Mathematik
in Deutschland
[* 13] (Münch. 1878);
Günther, Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften (Leipz. 1876);
Cantor, Mathematische Beiträge zum Kulturleben der Völker (Halle [* 14] 1863);
Derselbe,
Vorlesungen über Geschichte der Mathematik
(Leipz. 1880, Bd.
1);
Marie, Histoire des sciences mathématiques et physiques (Par. 1883-1888, 12 Bde.);
Günther, Geschichte des mathematischen Unterrichts im deutschen Mittelalter (Berl. 1887).
Das Gesamtgebiet der reinen Mathematik
umfaßt Schlömilch, Handbuch der Mathematik
(Bresl. 1879-81, 2 Bde.).