(grch.), im allgemeinen die äußere Form und Gestalt als Abbild eines
beseelten Innern, insbesondere das menschliche Antlitz; die Kunst, aus der Physiognomie auf die innere Seelenbeschaffenheit zu schließen,
wird als Physiognomik, auch Physiognomōnik bezeichnet. Wenn auch das Wort Physiognomie sich ursprünglich auf
die Beurteilung der Erscheinung eines lebenden Wesens, selbst einer Gegend oder eines Landes bezieht, so wendet man es doch
meist auf die Gesichtszüge des Menschen und solcher Tiere an, die durch Bewegungen des Gesichts ihre Empfindungen kundgeben können.
Früher beschränkte man sich darauf, aus verschiedenen Formen der einzelnen Gesichtsteile auf die geistigen
Fähigkeiten Schlüsse zu ziehen. Auf diesem Wege wurde unter den Händen Lavaters (s. d.) gegen Ende des 18. Jahrh.
die Physiognomik eine ziemlich inhaltlose Spielerei, die mit der Phrenologie (s. d.) Hand
[* 2] in Hand ging. Erst mit dem Anfange
des 19. Jahrh. suchte man durch Beobachtungen, anatom. Studien und physiol. Versuche die Gesetze festzustellen,
nach denen die Muskeln
[* 3] bei bestimmten Empfindungen in Bewegung gesetzt werden. Sir Charles Bell betrat den erstern Weg in seiner
Anatomie und Physiologie des Ausdrucks (Lond. 1806). Duchenne in Paris
[* 4] stellte die Wirkung starker elektrischer Reizung der Gesichtsmuskeln
fest («Mécanisme de la physionomie humaine», Par.
1862),
und in neuerer Zeit suchten Piderit und besonders Charles Darwin («The expression of emotions»,
Lond. 1871; deutsch von J. V. Carus: «Der Ausdruck der Gemütsbewegungen», 4. Aufl., Stuttg. 1884)
die Gesetze der Ausdrucksbewegungen festzustellen. Darwin führt die ganze Mimik
[* 5] der Tiere und des Menschen, des Gesichts und der
Gliedmaßen, auf drei Principien zurück, nämlich das Associationsprincip der zweckmäßigen Gewohnheiten,
das Princip der Antithese und das Princip der im Bau des Nervensystems begründeten Handlungen, die vom Willen und
bis zu einem
gewissen Grade von der Gewohnbeit unabhängig sind. Es giebt viele Bewegungen, die direkt oder indirekt nützlich sind zur
Befriedigung von Bedürfnissen u. s. w.; sie werden wiederholt und allmählich
zur konstanten Gewohnheit, sobald ein geistiger Zustand eintritt, der sich auf dasselbe Bedürfnis bezieht. So fletscht der
zornige Mensch die Zähne,
[* 6] ballt die Fäuste u. s. w.; er bereitet seine Angriffswaffen vor.
Dem Princip der Antithese zufolge werden bei geistigen Zuständen, die einem andern, von bestimmten Bewegungen
begleiteten Zustand gerade entgegengesetzt sind, auch die entgegengesetzten Muskeln in Aktion gesetzt. Der Hund schmiegt sich,
wenn er schmeicheln will, weil er sich streckt und steift, wenn er sich zum Kampfe bereitet; die Katze
[* 7] steift sich dagegen
zum Liebkosen, weil sie sich duckt und schmeidigt, wenn sie angreifen will. Zu der dritten Art des seelischen
Ausdrucks, die von besondern Zuständen des Nervensystems abhängt, rechnet Darwin das Zittern, Schwitzen, Erröten und Erblassen
u. s. w. Bei allen diesen Vorgängen spielt die Vererbung die größte Rolle; die meisten ausdrucksvollen Bewegungen sind angeboren,
d. h. von den Voreltern ererbt; die Gewohnheit fixiert sie, und schließlich
geben sie dem ganzen Gesicht
[* 8] einen typischen Ausdruck, je nachdem diese oder jene Geisteszustände die Oberhand im Leben gewonnen
haben (s. Ausdrucksbewegungen). –
Vgl. Wittich, Physiognomik und Phrenologie (Berl. 1870);
Piderit, Mimik und Physiognomik
(2. Aufl., Detm. 1886);
Mantegazza, Physiognomik und Mimik (2 Bde., Lpz. 1890);
Über pathologische Physiognomie (Pathognomik), die Kunst, den innern Körper- und Geisteszustand eines Kranken aus den Veränderungen
der Gesichtszüge zu erschließen, vgl. Baumgärtner, Krankenphysiognomik (2. Aufl., Stuttg. 1841‒43;
mit Atlas);
[* 9] Morison, The physiognomy of mental diseases (Lond. 1840).