(lat.), Gesamtbezeichnung desjenigen Hauptzweigs der christlichen Kirche, welcher sich im 16. Jahrh.
infolge der Reformation (s. d.) von der römisch-katholischen Kirche getrennt hat. Der Name schreibt sich
von der Protestation her, welche die evangelischen Stände, nämlich der Kurfürst Johann der Beständige von Sachsen, der Markgraf
Georg von Brandenburg, die Herzöge Ernst und Franz von Lüneburg, der Landgraf Philipp von Hessen, der Fürst Wolfgang von Anhalt und 14 Reichsstädte,
gegen den Reichstagsabschied von Speier 1529 erhoben.
Derselbe bestimmte, daß diejenigen Stände, welche bisher das Edikt von Worms gehalten hätten, es auch
fernerhin halten, die übrigen sich aber in keine weitern Neuerungen einlassen und niemand verwehren sollten, Messe zu halten.
Gegen diesen Reichstagsabschied legten die oben genannten Reichsstände 19. April 1529 feierlich Protestation ein und appellierten 25. April an den
Kaiser, an ein allgemeines oder deutsches Konzil und an jeden unparteiischen christlichen Richter.
Doch ging der Name Protestanten bald auf alle Anhänger der Grundsätze der Reformation über. Grundforderung derselben war:
objektiv die Zurückführung der kirchlichen Lehre und Praxis auf ihre im Evangelium bezeugte ursprüngliche Reinheit, subjektiv
die persönliche Gewißheit des Heils in der von priesterlicher Vermittelung unabhängigen, unmittelbaren,
innern Erfahrung des religiösen Gemüts, in seinem »Glauben«. Daher behaupteten die Reformatoren einesteils das alleinige Ansehen
der Heiligen Schrift in Glaubenssachen und andernteils die alleinige Herkunft des Heils aus Gott mit Ausschluß menschlicher
Verdienste und selbstgewählter Vermittelungen.
Jenes, das alleinige Ansehen der Heiligen Schrift, nennt man, wie es scheint im Anschluß an Bayers »Compendium
theologiae positivae« (1686), seit Anfang unsers Jahrhunderts (Wegscheider und Bretschneider) das formale, dieses, die der Werkgerechtigkeit
entgegengesetzte Rechtfertigung durch den Glauben, das materiale Prinzip der protestantischen Glaubenslehre. Durch die verschiedene
Auffassung einzelner Glaubenslehren, besonders derjenigen vom Abendmahl (s. d.)
und von der Prädestination
(s. d.), ward noch während der Reformation eine Trennung der protestantischen Kirche in die lutherische (s. d.) und reformierte
(s. d.) hervorgerufen, die durch die Konkordienformel (s. d.) 1580 und durch die Beschlüsse der Dordrechter Synode 1618 noch
erweitert ward. In beiden Kirchen haben sich wieder kleinere Sekten und Parteien gebildet und abgeschieden;
alle Verzweigungen der protestantischen Kirche aber stimmen darin überein, daß sie der Behauptung der römisch-katholischen
Kirche, die unfehlbare und alleinseligmachende zu sein, widersprechen und demgemäß die Oberherrschaft des »unfehlbaren«
Papstes und der Bischöfe sowie die Anrufung der Jungfrau Maria und der Heiligen, die Klostergelübde und den
Cölibat der Geistlichen, den Ablaß und andre unbiblische Andachtsmittel, das Meßopfer und die Siebenzahl der Sakramente, die
Lehre vom Fegfeuer und die Verdienstlichkeit der guten Werke (Fasten, Kirchenbesuch, Almosen etc.) vor Gott verwerfen. Da in
dem Namen »protestantische Kirche« nur eine negative Bedeutung (der Widerspruch gegen die Anmaßungen und Lehren
der katholischen Kirche) zu liegen schien, so hat man denselben in der neuern Zeit, nachdem die lutherische und reformierte Kirche
in einem großen Teil Deutschlands vereinigt waren (s. Union), auch mit dem Namen evangelische Kirche vertauscht, welcher Name
dem sogen. Formalprinzip des Protestantismus entspricht.
Vgl. Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (2. Aufl., Schaffh.
1862);
Hundeshagen, Der deutsche Protestantismus (3. Aufl., Heidelb.
1850);
Gaß, Geschichte der protestantischen Dogmatik (Berl. 1854-67, 4 Bde.);
Frank, Geschichte der protestantischen Theologie (Leipz. 1862 bis 1865, 2 Bde.);
Dorner, Geschichte der protestantischen Theologie (Münch. 1867);
Schweizer, Die protestantischen Zentraldogmen (Zürich
1854-56, 2 Bde.);
Kahnis, Der innere Gang des deutschen Protestantismus (3. Aufl., Leipz. 1874).
Gesamtbezeichnung für die aus der Reformation des 16. Jahrh. hervorgegangenen Kirchengemeinschaften,
im Unterschiede sowohl von der röm.-kath. als der griech.-orient. Kirche. Die Bekenner des Protestantismus heißen Protestanten. Seinen
geschichtlichen Ursprung hat dieser Name von der feierlichen Protestation, die die evang. Stände
auf dem
zweiten Reichstage zu Speyer 19. April 1529 gegen den alle kirchlichen Reformen verbietenden Beschluß der Mehrheit eingereicht
hatten. Seit dieser Zeit wurden sie als die protestierenden Stände bezeichnet, daher der Name Protestanten zuerst im Munde
der Gegner für alle Anhänger der deutschen Reformation aufkam, von diesen selbst aber als Ehrenname aufgenommen
wurde. Allmählich ging derselbe auch auf die Evangelischen der außerdeutschen Länder über.
Das Wesen und die ursprüngliche Gestalt des Protestantismus stehen im engsten kulturgeschichtlichen Zusammenhange
mit einer Reihe verwandter Erscheinungen auf andern Gebieten des geistigen Lebens. Überall machte sich am Ende
des Mittelalters ein Erwachen zu geistiger Selbständigkeit geltend, das sich zunächst in dem Bestreben äußerte, sich
durch erneute Vertiefung in die ursprünglichen Quellen von der Herrschaft eines verunreinigten Herkommens und unklassischer
Autoritäten zu befreien.
Wie die Renaissance in Kunst und Litteratur auf das klassische Altertum, so ging die religiöse Reformation
auf die Urkunden des Christentums, die heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments zurück, um auf ihrem Grunde die kirchlichen
Lehren und Ordnungen zu erneuern. Diese Tendenz ging in der Reformation aber wiederum aus dem Streben nach persönlicher religiöser
Gewißheit und Selbständigkeit des frommen Subjekts hervor, das schon längst den Anstoß zur Bekämpfung
aller äußern kirchlichen Heilsvermittelung gegeben hatte.
Wie nachmals die neue, mit Cartesius anhebende Philosophie den ganzen Bestand unsers wirklichen oder vermeintlichen Wissens untersuchte
und mit Energie dahin strebte, im unmittelbaren Selbstbewußtsein des denkenden Ich die erste schlechthin unumstößliche Gewißheit
zu finden, so suchte die Reformation persönliche Gewißheit des Heils in der unmittelbaren innern Erfahrung
des frommen Gemüts. Als das Princip des Protestantismus ergiebt sich infolgedessen in erster Linie die ihrer selbst
gewisse evang. Frömmigkeit, die sich in dem durch die Heilige Schrift bezeugten ursprünglichen Christentum als in ihrem Urbilde
wiedererkennt und sich so durch die geschichtliche Offenbarung in Jesu Christo objektiv begründet weiß.
Erst hieraus leitet der Protestantismus die sog. negative Seite seines Princips her,
das Recht der frommen Subjektivität nämlich, gegen alles äußere Traditions- und Autoritätswesen und jeden kirchlichen
Gewissenszwang zu protestieren, sofern dieselben vor dem religiösen Gewissen ihr Recht nicht darzuthun vermögen. Dieses
in sich einheitliche Princip (die Redeweise von einem zwiefachen Princip, dem Materialprincip der Rechtfertigung
und dem Formalprincip der Schriftautorität, kam erst im Anfang des 19. Jahrh. aus) hat sich
nicht bloß gegenüber dem Katholicismus, sondern auch innerhalb der eigenen kirchlichen Entwicklung des Protestantismus als deren vorwärts
treibender Faktor zur Geltung bringen müssen. Der ältere Protestantismus gewann zunächst nur eine
der kath. Kirche noch ähnliche kirchliche Gestalt. Er stimmte mit jener nicht bloß in der Festhaltung der in den ersten
fünf bis sechs Jahrhunderten festgestellten Lehrformeln, sondern auch in der Wertschätzung des ganzen dogmatischen Christentums
überhaupt und in dem Zurückgreifen auf eine unantastbare äußere Lehrnorm überein. Nur fügte er
dem alten System die Lehre von der Rechtfertigung
mehr
als neues Dogma ein und sah als Lehrnorm nicht mehr die Kirche, sondern die Heilige Schrift an. Diese wurde von Anfang bis
Ende unmittelbar als Gottes Wort, also alles in ihr Enthaltene als unantastbare Wahrheit betrachtet, ein Standpunkt, dessen
Inkonsequenz allerdings den kath. Gegnern mehr als einen Angriffspunkt bot. Denn
nicht nur gelangte man so zu einer neuen kirchlichen Lehrtradition, die, in den Bekenntnisschriften niedergelegt, als schlechthin
verbindliche Auflegung der Schriftlehre galt; sondern durch die Rechtfertigungslehre war auch eine weit durchgreifendere Neugestaltung
der altkirchlichen Lehrartikel geboten, als man sie damals wagte.
Indessen war dieser dogmatische Protestantismus mit seiner «reinen Lehre», mit seinen theol. «Kontroversen» und mit
seiner Vergötterung des Bibelbuchstabens nur die erste und für die Zeit seiner Entstehung einzig mögliche Weise, in der
das neue, in der Reformation zum Durchbruch gekommene Princip sich Geltung verschaffte. Später hat dann Georg Calixtus gegenüber
der scholastischen Spitzfindigkeit, die überall bei andern Kirchen fundamentale Abirrungen von der «luth.
Wahrheit» sah, das Gemeinsame in allen christl. Konfessionen betont, der Pietismus an die Stelle dogmatisch-kirchlicher Lehrkorrektheit
die persönliche Herzensfrömmigkeit der Einzelnen gesetzt, die Leibniz-Wolfsche Schule das Recht des Verstandes im Christentum
und die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Begründung der kirchlichen Glaubensartikel vertreten.
Allmählich hatte sich die allgemeine Bildung und Wissenschaft immer mehr von der kirchlichen Bevormundung
befreit und im sog. Aufklärungszeitalter zu Ergebnissen geführt, die mit dem ganzen dogmatischen
Christentum zugleich die bisher von allen Kirchenparteien festgehaltene Meinung von seiner übernatürlichen Entstehung
erschütterten. Der Rationalismus (s. d.) lenkte diese geistige Strömung mitten hinein in die
prot. Theologie, indem er vom sog. positiven Christentum nur die moralischen Wahrheiten stehen ließ, die
Wunder aber möglichst durch natürliche Deutung beseitigte.
Ihm gegenüber suchte der Supranaturalismus wenigstens den Wunderglauben mühsam zu retten, während er von dem altprot. Dogma
ein Stück nach dem andern preisgab. Das Werk des Rationalismus führte sodann die neuere Philosophie durch
Kant, Fichte und Hegel weiter. Aus ihren Arbeiten ging die moderne Weltanschauung hervor, die alles natürliche und geistige
Geschehen, statt auf einen außerordentlichen Machtwillen, auf die der Welt innewohnende vernünftige Gesetzmäßigkeit zurückführte
und folgerichtig mit dem Gottesbegriffe auch die Vorstellungen von Religion, Offenbarung u. s. w. wesentlich umgestaltete.
Der Gefahr, mit der unrettbar verlorenen Form auch den lebendigen Gehalt des christl.
Heilsbewußtseins zu verlieren, trat Schleiermacher mit seinen Untersuchungen über das Wesen der Religion und seiner Neugestaltung
der Dogmatik aus dem frommen Bewußtsein der Christen heraus, aber mit den Mitteln der modernen Wissenschaft und im Geiste der
freiesten, durch keine dogmatische Fessel gebundenen Forschung gegenüber und begründete so als der erste
eine den wissenschaftlichen und künstlerischen Tendenzen des 19. Jahrh. vollkommen ebenbürtig zur Seite tretende, ebenso
prot. als evang. Theologie.
Dennoch führte die Neubelebung der christl. Frömmigkeit zunächst zu einer Wiederholung der
ältern Vorstellungsformen, die zuerst
im neuerwachten Pietismus die philos. und die histor. Kritik, danach
in der durch die polit. Reaktion ermutigten neu-alten Orthodoxie jede Abweichung vom Buchstaben der Schrift und des altkirchlichen
Bekenntnisses proskribierte. Dagegen arbeitet die freie prot. Theologie der Gegenwart an der Aufgabe, in Schleiermachers Bahnen
eine tiefere Versöhnung des Christentums mit der modernen Kultur zu gewinnen.
Der prot. Charakter dieser Richtung erweist sich im allgemeinen in dem Streben, das reine Wesen des Christentums im Unterschied
von jeder unfreien Gebundenheit an irgend welche geschichtliche Erscheinungsform desselben immer lauterer auszumitteln, also
einerseits seinen ewigen religiösen und sittlichen Gehalt in den wechselnden Formen herauszufinden, andererseits durch fortgesetzte
sorgfältige Forschung über die geschichtlichen Ursprünge des Christentums überhaupt und der prot.
Kirche insbesondere eine wirklich geschichtliche Auffassung derselben zu ermöglichen. In letzterer Beziehung sind namentlich
die Schriften von Strauß, Ferdinand Christian Baur und der Tübinger Schule, ferner von Credner, Holtzmann, Keim, Hausrath, Holsten
u. a., in ersterer die von Hase, Rothe, Schenkel, Alex. Schweizer, Biedermann, Lipsius, Pfleiderer u. a.
zu nennen, während Ritschl und seine Schüler eine eigentümliche Mischung von rationalistischer und offenbarungsgläubiger
Richtung vertreten.
Was die äußere kirchliche Gestaltung des Protestantismus anbelangt, so findet sich von Anfang an eine große Mannigfaltigkeit
nicht nur von Kultus- und Verfassungsformen, sondern auch von Gestaltungen des dogmatischen Lehrbegriffs.
Der bedeutendste dieser Unterschiede, der bereits in der Reformationszeit hervortrat, ist der zwischen den Lutheranern (s. d.)
und Reformierten. Derselbe ruht nicht sowohl auf principieller Differenz, als vielmehr auf einer verschiedenartigen Ausprägung
des prot.
Grundprincips. Indessen hat sich trotz der kirchlichen Trennung im Laufe der Zeit eine so durchgreifende
Mischung reform. und luth. Elemente vollzogen, daß die ursprünglichen Unterschiede erst durch
die gelehrte Forschung der Gegenwart klar erkannt und in ihre feinern Beziehungen verfolgt werden konnten. Die Union (s. d.)
beider Kirchen, die sich im 19. Jahrh. zuerst in Preußen, danach auch in einigen kleinern Staaten vollzog, war
daher nicht bloß durch die Indifferenz der Zeit, sondern durch die kirchliche und theol.
Entwicklung selbst veranlaßt. Außerhalb Deutschlands hat namentlich der reformierte Protestantismus eine große Mannigfaltigkeit von kleinern
Kirchenparteien erzeugt, besonders in England und in den Vereinigten Staaten von Amerika. Nährend die lebendige geschichtliche
Entwicklung des Protestantismus ihre eigentliche Heimat in Deutschland, in der Schweiz und in den Niederlanden hat, ist
der angloamerikanische Protestantismus von der geistigen Bewegung in der Theologie erst in neuerer Zeit berührt worden. Über die äußere
Geschichte des Protestantismus s. Reformation.
Vgl. Dorner, Das Princip unserer Kirche (Kiel 1841);
Der deutsche Protestantismus (von C. B. Hundeshagen, 3. Aufl., Frankf. a. M.
1850);
Schweizer, Die prot. Centraldogmen (2 Bde., Zür.
1854-56);
Gaß, Geschichte der prot.
Dogmatik (4 Bde., Berl. 1854-67);
Baur, Das Princip des Protestantismus und seine geschichtliche Entwicklung
(in den «Theol. Jahrbüchern», Jahrg. 1855);
Schenkel, Das Wesen des Protestantismus (2. Aufl., Schaffh.
1862);
Frank, Geschichte der prot.
mehr
Theologie (3 Bde., Lpz. 1862-75);
Schenkel, Christentum und Kirche im Einklange mit der Kulturentwicklung (2 Bde., Wiesb.
1867; neue Ausg. 1871);
Dorner, Geschichte der prot.
Theologie (in «Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit»,
Bd. 5, Münch. 1867).