Unschuldig
Angeklagte
und unschuldig
Verurteilte für die Nachteile zu entschädigen, welche
ihnen durch die
Untersuchungshaft oder durch die
Vollstreckung eines irrigen Richterspruchs erwachsen sind, wird als eine
Forderung
der ausgleichenden
Gerechtigkeit nach der jetzt herrschenden
Ansicht bezeichnet. Doch ist die gesetzgeberische Formulierung
dieses Entschädigungsanspruchs sehr schwierig. In
Frankreich wurde die
Frage schon im vorigen
Jahrhundert
vielfach erörtert, und in
Preußen
[* 2] bestimmte schon 1776 eine Kabinettsorder
Friedrichs d. Gr., daß der nachgewiesenen Unschuld
das erlittene Ungemach vergütet werden solle. Im englischen
Parlament trat
Bentham für die
Entschädigung unschuldig
Verurteilter
ein, und die
Erörterungen der italienischen
Jurisprudenz über diese Entschädigungsfrage führten zur
Aufnahme diesbezüglicher
Bestimmungen in das
Strafgesetzbuch von
Toscana und in die Strafgesetzgebung des
Königreichs beider
Sizilien.
[* 3] In 18
Schweizer
Kantonen ist unschuldig
Verurteilten eine
Entschädigung für die erlittene
Haft gesetzlich zugebilligt.
Auch die frühere württembergische Strafprozeßordnung anerkannte den Entschädigungsanspruch unschuldig
verurteilter
Personen.
In
Deutschland
[* 4] wurde die
Sache neuerdings zunächst mit Anknüpfung an die
Untersuchungshaft wieder aufgenommen.
Der
Kriminalist
Heinze trat in einer Abhandlung über die
Untersuchungshaft (1865) für eine
Entschädigung unschuldig
Verfolgter
bezüglich des durch die
Untersuchungshaft erlittenen Nachteils ein, und der deutsche
Juristentag nahm 1876 einen
Antrag von
Jaques und Stenglein dahin gehend an: »Im
Fall der
Freisprechung oder der Zurückziehung der
Anklage ist für
die erlittene
Untersuchungshaft eine angemessene
Entschädigung zu leisten; es sei denn, daß der Angeklagte
durch sein Verschulden
während des
Verfahrens die
Untersuchungshaft oder die
Verlängerung
[* 5] derselben verursacht hat«. In Ergänzung dieses Beschlusses
wurde auf einem weitern
Juristentag (1882) beschlossen, daß auch für die Strafverbüßung
Genugthuung und
Ersatz der durch
dieselbe entstandenen vermögensrechtlichen Nachteile vom
Staat verlangt werden könne, wenn infolge einer
Wiederaufnahme des Verfahrens
(s. d.) auf
Freisprechung oder auf eine geringere als die verbüßte
Strafe erkannt worden sei. In
Österreich
[* 6] ergriff 1882 der
Abgeordnete
Roser die
Initiative zum
Zweck einer gesetzgeberischen
Lösung der
Frage, und im deutschen
Reichstag brachten
in demselben Jahr die fortschrittlichen Abgeordneten
Phillips und Lenzmann einen
Gesetzentwurf ein, über welchen v.
Schwarze namens
der eingesetzten
Kommission ausführlichen
Bericht erstattete.
Man entschied sich damals in der
Kommission für eine
Entschädigung
sowohl für unschuldig
verbüßte Strafhaft als für unschuldig erlittene
Untersuchungshaft.
Später wurde die
Sache
wiederholt aufgenommen und im
Plenum des
Reichstags, aber auch kommissarisch beraten. Ein
Antrag »Munkel«, welcher vom
Reichstag angenommen wurde, bezieht sich nur auf den Vermögensschaden, welchen unschuldig
Verurteilte durch die
Strafvollstreckung
erlitten haben, wofern sie nachmals
im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurden.
Hat der Angeklagte
seine
Verurteilung durch Vorsatz oder grobes Verschulden herbeigeführt, so ist nach
dem Munkelschen
Antrag ein Anspruch auf
Entschädigung ausgeschlossen. Gegen eine
Entschädigung wegen unschuldig
erweise verbüßter
Untersuchungshaft wird namentlich geltend gemacht, daß es sich bei der Verhängung derselben um ein allgemeines staatliches
Interesse handle, welchem sich der Einzelne unterordnen müsse;
daß der Richter, welcher von der ihm zustehenden Befugnis, die Untersuchungshaft zu verhängen, rechtmäßigen Gebrauch mache, niemand verletze;
daß die Energie der strafrechtlichen Verfolgung durch die Aussicht, vielleicht für die Nachteile der Untersuchungshaft einstehen zu müssen, beeinträchtigt werde;
daß man durch betrügerische Manipulationen sich durch die Untersuchungshaft und durch die Entschädigung für diese Vorteile verschaffen könne;
daß auch der Schuldige für die erlittene Untersuchungshaft entschädigt werden müsse, wenn seine Freisprechung wegen mangelnden Beweises erfolgt.
Auf der andern Seite macht man geltend, daß die erlittene
Untersuchungshaft
bei der
Verurteilung angerechnet werden darf, und daß daher folgeweise bei der
Freisprechung auch eine
Entschädigung am Platz
sei. Man weist ferner auf die
Zwangsenteignung hin, die ebenfalls im allgemeinen
Interesse, aber gegen
volle
Entschädigung erfolge.
Endlich wird die menschliche Unvollkommenheit und die damit zusammenhängende Möglichkeit, daß
Untersuchungshaft unbegründeterweise verhängt werde, zur Begründung des Entschädigungsanspruchs wegen unschuldig
erlittener
Untersuchungshaft mit angeführt.
Die deutschen
Regierungen haben sich bisher nach beiden
Richtungen hin ablehnend verhalten, auch gegenüber
dem Entschädigungsanspruch wegen unschuldig
erlittener Strafhaft, und zwar namentlich aus dem
Grund, weil auch die nachträgliche
Freisprechung im Wiederaufnahmeverfahren keine
Garantie dafür biete, daß
man es mit einem wirklich
Unschuldigen zu thun habe,
da dieselbe häufig nur aus dem
Grund erfolge, weil das ursprünglich vorhanden gewesene Beweismaterial
infolge der natürlichen
Wirkung des Zeitablaufs an
Kraft
[* 7] verloren habe.
Der
Bundesrat hat daher bis jetzt seine Zustimmung zu dem vom
Reichstag wiederholt beschlossenen Entschädigungsgesetz nicht
erteilt, dagegen das Vertrauen ausgesprochen, daß in den
Bundesstaaten überall in ausreichender
Weise für die
Beschaffung der Geldmittel Sorge getragen werde, welche erforderlich, um den bei der Handhabung der Strafrechtspflege
nachweisbar unschuldig
Verurteilten eine billige
Entschädigung zu gewähren. Dieser Anregung ist auch von mehreren deutschen
Staaten bei der Etatsaufstellung entsprochen worden.
Vgl.
Jacobi, Wahrheitsermittelung im
Strafverfahren und
Entschädigung unschuldig
Verfolgter (Berl. 1883);
Kronecker, Die
Entschädigung unschuldig
Verhafteter (das. 1883);
v.
Schwarze,
Die
Entschädigung für unschuldig
erlittene Untersuchung und Strafhaft (Leipz. 1883).