Wien.
Eine neue
Epoche der baulichen und materiellen
Entwickelung
Wiens ist durch das
Gesetz vom betreffend
die Änderung der
Wiener
Linien-Verzehrungssteuer und Einführung dieser
Steuer in mehreren
Wiener
Vororten,
dann durch das
Gesetz vom betreffend die Vereinigung der Vorortgemeinden mit der Reichshaupt- und Residenzstadt
Wien
,
[* 2] eingeleitet worden. Nach dem ersterwähnten
Gesetz wird die
Verzehrungssteuer, welche bisher für das durch die Linienwälle
eingeschlossene Gebiet von Wien
von einer ganzen
Reihe von Konsumartikeln erhoben wurde, einerseits auf
wenige
Artikel, nämlich
Wein, Obstmost,
Bier,
Rindvieh,
Schafe,
[* 3]
Schweine,
[* 4]
Fleisch und Fleischwaren, Geflügel,
Wild,
Fische
[* 5] und
Schaltiere,
beschränkt und für diese
Artikel der bisherige
Tarif erheblich reduziert, anderseits aber das Gebiet dieser
Verzehrungssteuer
auf die
Vororte von Wien
in weitem Umkreis ausgedehnt.
Das
Gesetz bedeutet eine Entlastung der Bewohner der Reichshauptstadt um einen Steuerbetrag von fast 3 Mill.
Gulden, zugleich
aber, was noch wichtiger, eine
Hebung
[* 6] der Stadt selbst. Die bisherige
Differenz der
Verzehrungssteuersätze, in Wien
pro
Kopf 12
Guld.,
in den
Vororten variierend zwischen 1-2
Guld. pro
Kopf, führte naturgemäß dazu, daß die Lebensverhältnisse
vor den
Thoren
Wiens sich günstiger gestalteten, daß also eine große Anzahl von
Personen vor die
Linien zog und infolgedessen
die
Nachfrage nach
Wohnungen draußen zunahm, die Bauthätigkeit dort wuchs, während Wien
nicht nur keinen
Zuwachs aus seiner
Umgebung erhielt, sondern noch an diese von seiner
Bevölkerung
[* 7] abtrat.
Das
Fallen der
[* 8] Linienwälle, welches eine
Konsequenz der
Durchführung des
Gesetzes sein wird, bedeutet die
Befreiung von beengenden
Fesseln und wird hoffentlich den Anstoß zum Aufblühen der baulichen
Entwickelung und der Erwerbsthätigkeit
Wiens bilden.
Nach den Zusagen der
Regierung wird der durch die Abtragung der Linienwälle gewonnene
Grund auch zur
Anlage
einer
Stadtbahn benutzt werden. Was die
Vororte betrifft, so werden dieselben infolge der
Ausdehnung
[* 9] des
Wiener Verzehrungssteuergebiets
auf dieselben zunächst
Opfer zu bringen haben, da der
Staat auf sein bisheriges
Einkommen aus dem
Titel der
Verzehrungssteuer
nicht verzichten konnte und daher die Vorortbewohner für die Entlastung der Residenzbewohner aufzukommen
haben; dafür werden ihnen aber die mannigfachen Vorteile, welche die Vereinigung
Wiens mit den
Vororten für die letztern
mit sich bringt, die entsprechende
Entschädigung gewähren. Bei der
Enquete über die
Durchführung des neuen. Verzehrungssteuergesetzes
haben sich nämlich sowohl die Vertreter
Wiens als die der Vorortgemeinden einhellig für die sofortige
administrative Vereinigung der
Vororte mit der
Kommune Wien
ausgesprochen. In diesem
Sinne wurde daher im niederösterreichischen
Landtag im
Oktober 1890 eine
Vorlage eingebracht, welche auch mit Gesetzeskraft erlangt hat.
Hiernach werden in das Gemeindegebiet der Stadt Wien (s. Plan, S. 986) einverleibt die bisher selbständigen Gemeinden: Simmering, Gaudenzdorf, Ober- und Untermeidling, Hetzendorf, Lainz, Hietzing, Penzing, Rudolfsheim, Fünfhaus, Sechshaus, Breitensee, Ober- und Unter-St. Veit, Hacking, Baumgarten, Ottakring, Neulerchenfeld, Hernals, Pötzleinsdorf, Gersthof, Weinhaus, Währing, Ober- und Unter-Döbling, Ober- und Unter-Sievering, Neustift, Nußdorf und Heiligenstadt mit ihrem ganzen Gemeindegebiet, ferner die Ortschaften Schönbrunn, Speising und Josefsdorf (Kahlenberg) ganz und Teile der Ortschaften Aspern, [* 10] Kaiser -Ebersdorf, Schwechat, Klederling, Ober- und Unter-Laa, Inzersdorf, Altmannsdorf, Mauer, Auhof, Hütteldorf, Hadersdorf, Dornbach, Neuwaldegg, Salmannsdorf, Weidling, Grinzing und Kahlenbergerdorf.
Die Grenzen [* 11] des neuen Gemeindegebiets schließen nun auch den bewaldeten Kranz von Bergen, [* 12] welcher die Kaiserstadt vom Norden [* 13] bis zum Westen einsäumt, also den Leopolds- und Kahlenberg, den Hermannskogel und die Ausläufer des Wiener Waldes an der Westbahn, ein. Das neue Gebiet von Wien wird in 19 Bezirke eingeteilt. Zu den bisherigen 10 Bezirken kommen nämlich 9 neue, welche die nachfolgende Bezeichnung führen werden: 11. Simmering, 12. Meidling, 13. Hietzing, 14. Rudolfsheim, 15. Fünfhaus, 16. Ottakring, 17. Hernals, 18. Währing, 19. Döbling. Während die bisherigen 10 Bezirke ein Areal von 55,4 qkm mit einem Umfang von 38 km hatten, umfaßt das neue Gemeindegebiet 177,5 qkm, also mehr als dreimal soviel wie bisher, mit einem Umfang von ungefähr 63 km. Die Bevölkerung beträgt nach dem vorläufigen Ergebnis der am ¶
mehr
vorgenommenen Volkszählung in dem bisherigen Gemeindegebiet von Wien, mit Einschluß des Militärs, 831,472 (1880: 725,459) und in dem nunmehrigen Groß-Wiener Gemeindegebiet 1,364,548 (1880: 1,111,379) Einw. (darunter 22,651 aktives Militär). Nach der Umgangssprache waren von der nach Österreich [* 15] zuständigen Bevölkerung Wiens 1,146,568 Deutsche, [* 16] 63,834 Tschechen und Slowaken, 2006 Polen und 1955 Angehörige andrer Nationalitäten. Der künftige Gemeinderat zählt nach dem neuen Gemeindestatut 138 auf 6 Jahre gewählte Mitglieder, welche den Bürgermeister, zwei Vizebürgermeister und 22 Mitglieder des Stadtrats auf 6 Jahre wählen.
Gegen die Krëierung des letztern Organs, welches bestimmt ist, den Gemeinderat von einer Reihe minder wichtiger Verhandlungsgegenstände zu entlasten, hat sich freilich eine heftige Opposition seitens der Antisemitenpartei erhoben, welche in diesem neuen Organ eine Schädigung der Gemeindeautonomie erblickt. Nach einem gleichzeitig vorgelegten Baugesetz wird der Gemeinderat gewisse Gebiete festzustellen haben, in denen nur Villen mit Vorgärten errichtet werden dürfen, um den landschaftlich schönsten und wegen der nahen Waldungen gesündesten Teil des erweiterten Gemeindegebiets dem Bau von solchen Familienhäusern zu reservieren und sowohl Zinskasernen als Industrieetablissements hiervon fernzuhalten.
Von Wiener Neubauten ist insbesondere die von König ausgeführte Börse für landwirtschaftliche Produkte in der Leopoldstadt, mit großem Börsensaal, zu erwähnen. Auf der Ringstraße, vor der Mölkerbastei, wurde das von Silbernagl entworfene Denkmal Liebenbergs, des um Wien während der Belagerung durch die Türken 1683 verdienten Bürgermeisters, enthüllt. Von den beiden neuen Hofmuseen wurde das naturhistorische im August 1889 eröffnet. Das prächtige Treppenhaus ist mit dem riesigen Deckengemälde Canons: der Kreislauf [* 17] der Lebens, geschmückt.
Das Museum umfaßt die mineralogische, geologische, prähistorische, ethnographische, zoologische und botanische Sammlung. Im kunsthistorischen Museum ist Ende 1889 die reichhaltige Hofwaffensammlung eröffnet worden, wogegen die übrigen Abteilungen (Antikensammlung, Gemäldegalerie) erst im J. 1891 zugänglich gemacht werden sollen. Die Bauthätigkeit in Wien umfaßte in den Jahren 1888 und 1889: 287, bez. 294 Neubauten und 378, bez. 332 Um- und Anbauten. Gleichzeitig wurden in den Vororten 284, resp. 261 Neubauten und 325, resp. 332 An- u. Umbauten ausgeführt. - Mit wenigen Ausnahmen ist in allen Verbrauchsartikeln eine Steigerung gegenüber den Vorjahren eingetreten. In Bezug auf die Fleischversorgung ist der Transport frischen Fleisches aus Galizien hervorzuheben. Zum Export nach Frankreich wur-
[* 14] ^[Abb.: Plan von Groß-Wien, nach Einverleibung der Bezirke XI bis XIX (20. Dezember 1890).] ¶
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den im J. 1889 im städtischen Schlachthaus 140,253 Schafe geschlachtet (1888: 68,679). Der Auftrieb [* 19] von Rindvieh auf den Wiener Viehmarkt belief sich auf 265,641 Stück. Im J. 1889 wurden die wichtigern Verbrauchsartikel in folgenden Mengen eingeführt:
Rindvieh | 78477 Stück | Obst | 188273 metr. Ztr. |
Kälber | 149162 - | Brot | 190789 |
Schafe | 73354 - | Reis | 23435 |
Schweine | 186617 - | Eier | 95890544 Stück |
Fleisch etc. | 189598 metr. Ztr. | Käse | 16255 metr. Ztr. |
Geflügel | 2 266 645 Stück | ||
Wildbret | 180261 - | Butter u. Speisefett | 29971 |
Federwild | 170568 - | Brennholz | 317591 Kubikm. |
Hafer | 344806 metr. Ztr. | Holzkohle | 35127 metr. Ztr. |
Heu, Stroh | 394030 | Steinkohle | 7268579 |
Gemüse | 70298 | Wein, Most | 383328 Hektol. |
Bier | 825697 - | ||
Mehl, Gries Kartoffeln | 544394 | Branntw. | 62855 |
Das Gemeindebudget wurde für 1891 in den Einnahmen mit 9,751,760 Guld., in den Ausgaben mit 21,303,510 Guld. veranschlagt, woraus sich ein Nettoerfordernis von 11,551,750 Guld. ergibt. Zur Deckung desselben werden sämtliche Steuerzuschläge und die Umlagen auf den Mietszins in bisheriger Höhe belassen. Bei den Gemeinderatswahlen in den Jahren 1890 und 1891 haben die Antisemiten bemerkenswerte Erfolge, namentlich im dritten Wahlkörper, errungen. Ebenso gelang es ihnen, bei den Landtags- und Reichsratswahlen 1890 und 1891 mit ihren Kandidaten in der Mehrzahl der Bezirke Wiens durchzudringen. Vgl. »Groß-Wien. Skizze seines Entstehens und Beschreibung seiner neuen Grenzen« (Wien 1891).