Titel
Zigeuner
,
ein eigenartiges Wandervolk, das in fast ganz Europa
[* 2] und in einzelnen
Teilen von
Asien,
[* 3]
Afrika
[* 4] und
Amerika
[* 5] angetroffen
wird. Die Herkunft der Zigeuner
ist lange rätselhaft geblieben. Die älteste und am weitesten verbreitete
Ansicht war die, daß
die Zigeuner
aus
Ägypten
[* 6] stammen. Sie stützte sich auf die eigenen Angaben des
Volks bei seinem ersten Erscheinen
im mittlern Europa. Die
Bande, die 1417 zuerst in den Hansestädten an der Nord- und Ostsee erschien, gab an, aus Kleinägypten
zu stammen. Dasselbe
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Land nannten als ihre Heimat übereinstimmend die Banden, die 1418 in der Schweiz,
[* 8] 1422 in Italien
[* 9] und 1427 vor Paris
[* 10] erschienen.
In niederländ. Urkunden aus dem 15. Jahrh. werden wiederholt Könige und Grafen von Kleinägypten erwähnt. Daher führen
bei vielen Völkern die Zigeuner
Namen, die auf Ägypten hinweisen. In Spanien
[* 11] hießen sie früher Egypcianos
oder Egipcianos, jetzt ebenso wie in Portugal Gitanos, in England im 16. Jahrh. Egipcions, jetzt Gypsies, in alten holländ.
Urkunden Egyptiers, Egyptenaren, Egiptenaers, Giptenaers, daneben auch Heidenen, Heidens, wie jetzt allein; die Franzosen nannten
sie früher Egyptiens, jetzt Bohemiens oder Zinganes; die Griechen nennen sie Γξφτοι (Gifti), die
Albanesen Evgit, und in Ungarn
[* 12] ist noch jetzt die Bezeichnung Pharao nepe («Volk Pharaos») gebräuchlich.
Unter Kleinägypten ist möglicherweise, wie Hops vermutet, der Peloponnes zu verstehen, wo am Ende des 15. Jahrh. deutsche
Reisende Zigeuner
bereits fest angesiedelt fanden. Nächst der ägypt. Hypothese war
keine allgemeiner als die tatarische. In Deutschland
[* 13] war die Bezeichnung Tataren oder Tartaren für Mongolen
lange gebräuchlich, und als die Zigeuner
zuerst nach Deutschland kamen, glaubte das Volk, die Mongolen seien wiedergekommen, und
nannte sie Tataren. Auf dem gesamten Gebiet des Niederdeutschen und Friesischen hat sich in mancherlei dialektischen Varietäten
der Name Tatern für Zigeuner
erhalten, und er ist von dort nach Dänemark
[* 14] und Schweden,
[* 15] ja zu den Finnen gewandert.
Das Rätsel ihrer Herkunft wurde erst gelöst, als man daran ging, ihre Sprache
[* 16] zu untersuchen. Nachdem Rüdiger 1782 und Grellmann 1783 die
richtige Spur gefunden hatten, erwies Pott 1844 streng wissenschaftlich, daß die Sprache der Zigeuner
eine indische
sei. Näher begrenzt hat ihre Heimat Miklosich. Er zeigte 1878, daß das Zigeuner
ische der nordwestlichsten Gruppe der arisch-ind.
Sprachen angehört, den Sprachen der Darden, Kafiristans und der Stämme im Hindukusch.
Lange glaubte man, den Anfang ihrer Geschichte in Indien selbst nachweisen zu können. Der pers. Epiker Firdusi, der um 1000 n. Chr. lebte, erzählt in seinem Schahname, daß der pers. König Bahram Gur (um 420 n. Chr.) von dem ind. Könige Schankal von Kanaudsch sich 10000 Luris erbat, damit sie durch ihre Kunst im Lautenspiel seine armen Unterthanen erfreuten. Die Luris verschwendeten ihren Weizen und verkauften die Kühe und waren bald ganz mittellos. Da befahl ihnen Bahram Gur zornig, mit ihren Eseln durch sein Land zu wandern und sich durch Gesang und Instrumentalmusik zu ernähren.
Die Luris, sagt Firdusi, wandern jetzt gemäß diesem Befehle in der Welt umher, indem sie Beschäftigung suchen, sich zu
Hunden und Wölfen gesellen und auf der Landstraße Tag und Nacht stehlen. Dieselbe Geschichte erzählt
außer andern pers. Schriftstellern auch der arab. Geschichtschreiber
Hamsa al Ißfahani, der ein halbes Jahrhundert vor Firdusi lebte. Luri oder Luli aber ist der Name, den noch jetzt die Zigeuner
vorzugsweise
in Persien
[* 17] führen, und trotz der märchenhaften Einkleidung der Geschichte ist es kaum zu bezweifeln,
daß im 5. Jahrh, ein Trupp Zigeuner
aus Indien nach Persien kam, womit aber nicht gesagt ist, daß gerade diese die Ahnen der europäischen
Zigeuner
sind.
Das aber hat man vielfach angenommen. Hamsa nennt die ind. Musikanten Zott, ein Name, der arabisiert ist
aus Jatt (spr. Dschatt), und deshalb hat man die Zigeuner
für Jats erklärt, d. h.
für
das Volk, das den ältesten und wichtigsten Bestandteil der Bevölkerung
[* 18] des südl. Pandschabs ausmacht. Die Geschichte
dieser Jats und damit, wie man meinte, die der Zigeuner
hat dann der gelehrte holländ.
Arabist de Goeje vom 7. Jahrh. an aus arab.
Quellen verfolgt. Seitdem durch O'Brien 1881 die Sprache der Jat, das Jatkr oder Multam, genauer bekannt geworden ist, weiß
man, daß Jats und Zigeuner
ganz verschieden sind, und der Bericht über den Census des Pandschabs 1881 von Ibbetson (3 Bde.,
Lahaur 1883) ergiebt, daß ganz andere Stämme des Pandschabs als die Jats den Anspruch auf Zigeunertum
erheben können, namentlich die Sansi und die Tschangar.
Die Tschangar haben schon Rienzi (1832) und Trumpp (1872) mit den Zigeuner
identifiziert,
und es ist nicht zu leugnen, daß sich in ihrer Sprache Anklänge an den Sprachschatz der Zigeuner
und der Dialekte
von Kasiristan finden. Außerdem stimmt der Name Tschangar auffallend zu der ältesten lat. Form des Namens Zigeuner, nämlich Zingari,
so daß ein näherer Zusammenhang zwischen Tschangars und Zigeuner nicht ausgeschlossen ist. Der Name Zigeuner selbst ist seiner Herkunft
nach noch ganz dunkel. Er lautet bei den Türken Tschinghiane, rumänisch Ciganu, ungarisch Czigany, bulgarisch
Ciganin, litauisch Cigonas, italienisch Zingaro und Zingano u.s.w.
Die ältesten Chronisten nennen sie lateinisch Secani, Cingari, Zingari, vulgariter «Cigäwnär», im Deutschen Ziginer, Zigeiner, Zegeiner, niederdeutsch Suvginer, Zigöner u. s. w. Sie selbst nennen sich Rom [* 19] (Femininum Romni),
im Plural auch Romani tschave, d. h. «zigeunerische Kinder». Rom heißt «Schwarm», «Stamm» und läßt sich reichlich aus Dardudialekten belegen. Andere von den Zigeuner selbst gebrauchte Namen sind Romani tschel (tschal, sal, säl) und besonders Sinte oder Sinde, auch Manusch (Mensch), Kale oder Mellele (Schwarze).
Die älteste Erwähnung der Zigeuner in Europa ist die im Itinerarium des Franziskanermönches Simon Simeon, der 1322 die Insel Kreta besuchte und dort ein Volk fand, das seiner Schilderung nach nur Zigeuner gewesen sein können. Hopf hat urkundlich nachgewiesen, daß es jedenfalls vor 1346 Zigeuner auf Korfu [* 20] gegeben hat. Um 1370 finden sich Zigeuner auf der epirotischen Küste gegenüber von Korfu, teils umherschweifend, teils fest angesiedelt; um 1398 bestätigte der venet. Statthalter der griech. Kolonie Nauplion, Ottaviano Buono, den dortigen Acingani, d. h. Zigeuner, speciell ihrem Häuptling Johann, die Privilegien, die ihm seine Vorgänger verliehen hatten.
Damals müssen also die Zigeuner schon geraume Zeit im Peloponnes gesessen haben. Auch in der Walachei waren bereits im 14. Jahrh. Zigeuner ansässig. Die böhm. Annalen erwähnen das Auftreten der Zigeuner zuerst 1416. Daß sie aber dort schon früher vorhanden waren, beweist, daß in den Gerichtsakten der Herren von Rosenberg vom J. 1399 gesagt wird, daß unter einer Räuberbande, die damals im südl. Böhmen [* 21] ihr Unwesen getrieben hatte, sich auch ein «schwarzer Zigeuner» befand. In Deutschland lassen sie sich, wie erwähnt, zuerst 1417 nachweisen. Ihre Anführer nannten sich «Herzoge» und «Grafen» und wiesen Schutzbriefe des Kaisers Sigismund vor. Sie fanden in vielen Städten freundliche Aufnabme und reichliche Unterstützung. Bald aber erkannte man sie als Diebe und Betrüger, viele wurden gefangen und gehenkt. In Italien zeigten sie sich zuerst 1422 vor Bologna, in Spanien 1447 in Barcelona, [* 22] in den Niederlanden 1420 in Deventer; in Polen und ¶
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dem westl. Rußland sind sie erst 1501 urkundlich nachweisbar, in England seit Mitte des 15. Jahrh., in Schottland 1506, im Baskenlande 1538; nach Schweden kamen sie 1512. Mit diesen histor. Thatsachen stimmen die linguistischen Ergebnisse vollkommen überein. Sämtliche Zigeunerdialekte Europas enthalten in reichem Maße griech. Worte, ja, die griech. Sprache hat auf sie in einer Weise eingewirkt, wie es sich nur aus einem sehr langen Aufenthalt in Griechenland [* 24] erklären läßt. Außer griech. Elementen enthalten alle europ. Dialekte auch andere fremde, d. h. nichtindische. Man kann daraus entnehmen, welches der Weg gewesen ist, den sie bei ihrer Wanderung eingeschlagen haben.
Aus den Ländern des Hindukusch zogen sie nach Persien, von dort durch Kurdistan nördlich nach Armenien, wo sie lange gesessen haben. Von Armenien zogen sie westlich durch Kleinasien hindurch nach den griech. Inseln, vor allem nach Kreta, von dort nach dem Peloponnes, wo sie jahrhundertelang gesessen haben müssen. Nach der europ. Türkei [* 25] sind sie erst von Griechenland aus eingewandert. Von Griechenland zogen sie sodann durch Albanien, Serbien [* 26] östlich nach der Walachei und Moldau, dem heutigen Rumänien, von der Walachei aus kamen sie nach Ungarn, von dort nach Deutschland.
Auf Grund der Sprache hat Miklosich die Zigeuner Europas in 13 Gruppen geteilt:
1) griechische, 2) rumänische, 3) ungarische, 4) mährisch-böhmische, 5) deutsche, 6) polnisch-litauische, 7) russische, 8) finnische, 9) skandinavische, 10) italienische, 11) baskische, 12) englisch-schottische, 13) spanische. Griechische Zigeuner nennt Miklosich die in der europ. Türkei lebenden. Ihre Zahl wird auf etwa 67000 (mit Bulgarien und Ostrumelien 117000), von andern aber auf 214000 angegeben; noch unsicherer ist die Schätzung der Zigeuner der asiat. Türkei, die zwischen etwa 40000 und 200000 schwankt.
Die türkischen Zigeuner teilen sich in Nomaden, unter denen die wildesten und ursprünglichsten die Zapari sind, und seßhafte Zigeuner. Diese beiden Klassen sind in Sprache und Sitten weit voneinander verschieden. Die seßhaften sind, außer den in Konstantinopel [* 27] selbst sitzenden, meist Christen, die Nomaden Mohammedaner. In Konstantinopel selbst sind nur etwa 140 Familien ansässig, die meist Mohammedaner sind und ihre Muttersprache fast ganz vergessen haben. Anderswo sitzen sie zahlreicher, wie z. B. das Dorf Hebibdsche bei Adrianopel fast ausschließlich von Zigeuner bevölkert ist. Zu den rumänischen Zigeuner gehören sprachlich auch ein Teil der serbischen, ferner die in Belgorod im Depart. Kursk in Großrußland angesiedelten und die bei Taganrog am Asowschen Meer.
In der Moldau und Walachei waren sie bis 1856 leibeigene, teils der Krone, teils der Klöster und von Privaten. Die Zahl der Zigeuner in Rumänien ist etwa 250000, in Serbien 34000, in Bosnien [* 28] und der Herzegowina 14000. Am besten bekannt sind die ungarischen Zigeuner. Während in Eisleithamen nur etwa 16000 leben sollen, wurden 1893 in Ungarn 274940 Zigeuner gezählt, darunter 243432 ansässige, 20406 zeitweilig ansässige und 8938 Wanderzigeuner. Nach der Volkszählung von 1890 sprachen 91603 Personen die Zigeunersprache.
Für Böhmen uud Mähren wird die Zahl der Zigeuner auf 13500 angegeben, für Deutschland auf etwa 2000, ebenso für Frankreich, für Spanien auf 40000, für Italien auf 32000, für Rußland auf 58000 (sowie 15000 in Polen). Ganz unsicber sind die Zählungen in andern Ländern. Insgesamt wird die Zahl der europäischen Zigeuner von Cora auf 779000 berechnet. Sehr zahlreich sind sie noch in Persien, ebenso in Nordafrika und Kleinasien. Auch in Amerika begegnet man ihren wandernden Zügen.
Ethnographisches. Der Zigeuner ist in der Regel von mittlerer Gestalt, fast stets wohlgebaut, schlank, mit kräftigen, muskulösen Gliedern. Die Farbe der Haut [* 29] ist braungelb, das Haar [* 30] dicht und schwarz. Die Frauen sind in ihrer Jugend oft von angenehmem Äußern, stehen aber in der Regel hinter den Männern zurück und altern ungemein schnell. Männer und Frauen haben blendendweiße Zähne; [* 31] vor allem aber zeichnet sie das große schöne Auge [* 32] mit den langen, schwarzen Wimpern aus, das auch bei Stämmen der Darden sich findet.
Die Wohnung ist in der Regel ein elendes Zelt, das der Zigeuner überall mit sich führt. Andere, wie ein Teil der ansässigen Zigeuner in Siebenbürgen, bauen sich eine Art Wohnung unter der Erde, oft bis 12 Fuß tief, deren Ausstattung eine höchst primitive ist. Der wahre Zigeuner bleibt überhaupt nur im Winter in einer solchen Wohnung, namentlich bei Wind, den er als seinen schlimmsten Feind ansieht. Im Frühling geht das Wanderleben wieder an und das Zelt tritt wieder in sein Recht. Unentbehrlich ist dem echten Zigeuner ein Pferd, [* 33] an dessen Stelle in der Türkei und Italien oft der Esel tritt.
Größere Banden führen fast immer einen Wagen bei sich, der nicht selten zur Wohnung und Küche eingerichtet ist. Als Luxusgegenstand sucht jeder Zigeuner einen silbernen Trinkbecher zu erwerben, der als Erbstück in der Familie bleibt und in besonderer Ehre gehalten wird. Diejenigen, die Schmiede sind, besitzen außerdem noch einen Blasebalg, einen Amboß, der meist aus Stein ist, eine Zange [* 34] und ein paar Hämmer. Als Farbe der Kleidung liebt der ungarische Zigeuner Rot, daneben Grün, und Grün ist auch die Lieblingsfarbc der deutschen und war in ältern Zeiten die der englischen. Für den deutscben Zigeuner ist Grün das Zeichen der Makellosigkeit und Unbescholtenheit. Die spanischen Zigeuner haben wesentlich dieselbe Tracht wie die Pferde- und Maultierhändler von Andalusien, mit denen sie auch das Geschäft gemeinsam haben.
In der Wahl der Nahrung ist der Zigeuner nicht heikel. Am liebsten ißt er recht fettes Fleisch, besonders Schweinefleisch, und vor allem den Igel, das Nationalgericht. Pferdefleisch verschmäht er im allgemeinen, nimmt aber keinen Anstand sogar Aas zu essen. Von Getränken liebt er am meisten den Branntwein. Er ist auch ein leidenschaftlicher Verehrer des Tabaks in allen Gestalten. Man hat die Zigeuner auch, jedoch mit Unrecht, beschuldigt Menschenfleisch zu essen. Ebenso ist der professionsmäßige Kinderraub der Zigeuner ein Märchen. In Wahrheit sind nur äußerst wenige Fälle von Kinderraub einigermaßen bezeugt.
Die Zigeuner haben eine eigene polit. Verfassung. Sie selbst nennen ihr Haupt raj (d.i. das alte Sanskritwort raja [spr. radscha], das «König» bedeutet). Die deutschen Zigeuner zerfallen nach Liebich in drei Landsmannschaften, von denen jede ihren eigenen Hauptmann hat: die altpreußische, die sich besonders in Schlesien [* 35] und Posen [* 36] herumtreibt, die neupreußische uud die hannoveranische. Jede hat ihre eigenen Farben und ihren eigenen heiligen Baum. Die Altpreußen tragen Schwarz-Weiß und ihr heiliger Baum ist die Tanne [* 37] oder der Hagebuttenstrauch, die Neupreußen tragen Grün-Weiß und verehren die Birke, die Hannoveraner tragen Schwarz-Blau-Gold und ¶