Seite 18.979 Jahres-Supplement 1890-1891
Verurteilung
2 Seiten, 927 Wörter, 6'952 Zeichen
Im Meyers Konversations-Lexikon, 1888
Verurteilung,
Im Brockhaus` Konversationslexikon, 1902-1910
Verurteilung,
s. Strafurteil. Unter bedingter Verurteilung
versteht man ein Rechtsinstitut, kraft dessen dem Richter die Befugnis
gegeben wird, bei erstmaligen Verurteilung
, welche eine bestimmte Dauer nicht übersteigen (z. B. 6 Monate), die
Aussetzung des Strafvollzugs auf gewisse Zeit (z. B. 5 Jahre) unter der Bedingung anzuordnen, daß der Verurteilte während
dieser Zeit keine strafbaren Handlungen oder keine solche bestimmter Kategorie (z. B. Vergehen) begeht. Wird die Bedingung erfüllt,
so gilt die Verurteilung
als nicht ergangen oder wenigstens (Norwegen)
[* 2] die Strafe als verbüßt.
Die bedingte Verurteilung
soll als Ersatzmittel dienen für kurzzeitige Freiheitsstrafen. Von diesen behauptet man, sie erfüllten den
Strafzweck nicht, namentlich insoweit derselbe auf Besserung gerichtet ist. Der Ernst des Strafvollzugs sei in der Kürze
der Zeit dem Sträfling nicht zum Bewußtsein zu bringen; die kleinen Gefängnisse, in denen die kurzen
Strafen vollstreckt würden, böten keine ausreichenden Bürgschaften für eine geregelte, als Strafe empfundene Arbeit, selbst
nicht für eine genügende Aufsicht; bei der oft vorkommenden Unzulänglichkeit der Isolierung sei die Gefahr eines schädlichen
Einflusses seitens gewohnheitsmäßiger Verbrecher auf erstmalig Verurteilte, namentlich jugendliche, nahe liegend.
Außer der bedingten Verurteilung
sind daher noch als Ersatz- oder Ergänzungsmittel für
kurzzeitige Freiheitsstrafen vorgeschlagen: Zwangserziehung, Geldstrafe, Aufenthaltsbeschränkung, Friedensbürgschaft und
Verweis. Die bedingte Verurteilung
ist eingeführt in Belgien
[* 3] (Gesetz vom 31. Mai 1888 mit Novelle vom in Frankreich
in Luxemburg in Portugal
[* 4] in Norwegen Der ständige Strafgesetzausschuß
für den Österr.
Strafgesetzentwurf von 1889 hatte die Einführung der bedingten Verurteilung
vorgeschlagen. In Italien
[* 5] hat der Minister Bonacci der
Deputiertenkammer den Entwurf eines Gesetzes über die bedingte Verurteilung
vorgelegt. Der Vorentwurf eines Schweiz.
[* 6] Strafgesetzbuchs
von 1896 hat sie ebenfalls angenommen (Art. 50). Die amtlichen Rechenschaftsberichte Belgiens und Frankreichs
sprechen sich durchaus günstig über die Resultate aus. Im Durchschnitt machen die Gerichte erster Instanz in Belgien bei 35 Proz.
aller Verurteilung
zu
¶
Gefängnisstrafen von weniger als 6 Monaten (nur bis zu diesem Strafmaß ist bedingte Verurteilung
zulässig) von der bedingten Verurteilung (sursis)
Gebrauch. Allein die Rückfallsstatistik zeigt seit Einführung des Gesetzes vom keine Rückgänge. 1883‒87
kamen 1 Rückfälliger auf 73,17 (35,1 auf 100000 E.), 1888‒92 auf 71,24 (41,7 auf 100000 E.) Verurteilte. 1884 wurden
19000, 1890: 36000, 1894: 42000 zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt, also hat die Einführung der bedingten Verurteilung
die Zahl der
Verbrechen nicht seltener gemacht.
In England (Probation of first Offenders Act, 1887) und seinen Kolonien Canada, Neuseeland, Queensland, Victoria
[* 8] (Australien),
[* 9] Westaustralien, Neusüdwales und seit Gesetz vom im ganzen Staate Massachusetts besteht das
zuerst (1878) in Boston
[* 10] eingeführte Probationssystem, nach dem gewisse Personen, die sich einer strafbaren Handlung (besonders
Trunkenheit, Prostitution, Störung der öffentlichen Ordnung, auch Diebstahl und Betrug geringern Grades) zum erstenmal schuldig
gemacht haben, unter die Aufsicht besonderer Beamten gestellt werden, welche die Aufgabe haben, zu prüfen,
ob ihre Schützlinge sich bewähren, und im Fall das nicht der Fall ist, die nachträgliche Verurteilung
zu einer
dann meist erheblich höher bemessenen Freiheitsstrafe herbeiführen. Im Gegensatz zum belg.-franz. System wird hier also der
Urteilsspruch ausgesetzt und sich der unter Probezeit (probation) Gestellte nicht selbst überlassen,
sondern unter Staatsaufsicht gestellt. Auch wird der Begünstigte der Gunst nicht erst verlustig, wenn er während der Probezeit
kein neues Verbrechen oder Vergehen begeht, sondern schon, wenn er sich während der Bewährungsfrist überhaupt schlecht führt.
In Deutschland
[* 11] haben sich die preuß. Oberlandesgerichte und Oberstaatsanwälte, amtlich aufgefordert, 1890 fast einstimmig
gegen die Einführung der bedingten Verurteilung
ausgesprochen. Ihnen zur Seite stehen in der wissenschaftlichen Litteratur die Professoren
Wach in Leipzig,
[* 12] Birkmeyer in München,
[* 13] Strafanstaltsdirektor Krohne in Moabit. Andererseits ist die bedingte Verurteilung
von namhaften
Praktikern (Wirth, Direktor der Strafanstalt Plötzensee bei Berlin,
[* 14] Amtsrichter Aschrott ebd.) und Theoretikern, voran Professor
von Liszt in Halle
[* 15] und Professor Seuffert in Bonn,
[* 16] lebhaft befürwortet worden.
Auch in der Tagespresse, auf Kongressen und Versammlungen von Gefängnis- und ähnlichen Vereinen (in Brüssel, [* 17] Petersburg, [* 18] Halle, Hamburg, [* 19] Köln) [* 20] ist die Frage vielfach erörtert. Die Reichsjustizverwaltung hält nach Erklärung im Reichstag 1896 noch weitere Erfahrung für nötig. Dagegen ist von Landes wegen derselbe Zweck durch bedingte Begnadigung, d. h. dadurch zu erreichen versucht worden, daß unter Gewährung von Strafaufschub durch die Strafvollstreckungsbehörde bei Wohlverhalten während längerer Zeit Begnadigung in Aussicht gestellt wird.
Die Gunstgewährung geschieht hier also nicht durch den Richter, und es besteht kein Recht auf Straferlaß im
Falle des Wohlverhaltens. Die bedingte Begnadigung wurde eingeräumt erstmalig verurteilten, jugendlichen (12‒18 J. alten)
Personen, gegen welche nicht auf eine längere als 6- (manchmal 3-) monatige Strafe erkannt ist, zuerst in Sachsen
[* 21]
dann in Preußen
[* 22] Bayern
[* 23] Württemberg
[* 24] Baden,
[* 25] Hessen,
[* 26] Mecklenburg-Schwerin,
Elsaß-Lothringen,
[* 27] Coburg-Gotha, Meiningen,
[* 28] Hamburg,
Bremen.
[* 29] Die bedingte Verurteilung
selbst kann nur vom Reiche eingeführt werden, weil
sie eine Abänderung von Strafgesetzbuch und Strafprozeßordnung darstellen würde.
Vgl. von Liszt in der «Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft», Bd. 9 u. 10 (1889 u. 1890);
Mitteilungen der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, Jahrg. 1‒5 (Berl. 1890‒96);
Wach, Die Reform der Freiheitsstrafe (Lpz. 1890);
Krohne im «Nordwestdeutschen Verein für Gefängniswesen», Heft 20 (1890) und die dort angegebene Litteratur; Rosenfeld, Welche Strafmittel können an die Stelle der kurzzeitigen Freiheitsstrafe gesetzt werden? (Berl. 1890);
von Kirchenheim, Der internationale Kongreß für Gefängniswesen in Petersburg 1890 (im «Gerichtssaal», Bd. 44, 1891);
Verhandlungen des ⅩⅩⅠ. deutschen Juristentages (10. und zu Köln);
L. George, Du sursis conditionnel à l’exécution de la peine et de la liberté conditionnelle (Par. 1895);
Zusammenstellung ausländischer Gesetze durch das Reichsjustizamt (Drucksachen des Deutschen Reichstags 1895/97, Nr. 90 im 2. Anlagenband).
An weitere Volkskreise wendet sich die Schrift von Bachem, Die bedingte Verurteilung (2. Aufl. Köln 1895).